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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_491/2023  
 
 
Urteil vom 3. April 2024  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Bundesrichter Beusch, 
Bundesrichterin Scherrer Reber, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Ausgleichskasse des Kantons Bern, Abteilung Renten und Taggelder, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Alters- und Hinterlassenenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 17. Juli 2023 (200 23 168 AHV). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1961 geborene A.________ war seit Juli 1991 verheiratet. Der Ehe entsprossen zwei Kinder, geboren am 19. Dezember 1992 und am 23. Juli 1995. Am 29. Juli 2020 starb die Ehefrau. Im Oktober 2022 ersuchte A.________ um eine Witwerrente. Die Ausgleichskasse des Kantons Bern wies das Gesuch mit Verfügung vom 9. Dezember 2022 resp. mit Einspracheentscheid vom 14. Februar 2023 ab. 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Urteil vom 17. Juli 2023 ab. 
 
C.  
A.________ beantragt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, unter Aufhebung des Urteils vom 17. Juli 2023 sei ihm eine Witwerrente ab dem 29. Juli 2020 auszurichten. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Eine qualifizierte Rügepflicht gilt hinsichtlich der Verletzung von Grundrechten. Das Bundesgericht prüft eine solche Rüge nur insofern, als sie in der Beschwerde präzise vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 136 I 49 E. 1.4.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente haben Witwen oder Witwer, sofern sie im Zeitpunkt der Verwitwung Kinder haben (Art. 23 Abs. 1 AHVG). Witwen haben überdies Anspruch auf eine Witwenrente, wenn sie im Zeitpunkt der Verwitwung keine Kinder oder Pflegekinder im Sinne von Art. 23, jedoch das 45. Altersjahr vollendet haben und mindestens fünf Jahre verheiratet gewesen sind (Art. 24 Abs. 1 Satz 1 AHVG). Der Anspruch erlischt mit der Wiederverheiratung, dem Tod der Witwe oder des Witwers (Art. 23 Abs. 4 AHVG) und - im Fall von Witwern, nicht aber von Witwen - wenn das letzte Kind das 18. Altersjahr vollendet hat (Art. 24 Abs. 2 AHVG).  
 
2.2. Mit Urteil 78630/12 Beeler gegen Schweiz vom 11. Oktober 2022 entschied die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR; nachfolgend: Urteil Beeler), dass durch Art. 24 Abs. 2 AHVG Witwer diskriminiert werden, indem ihre Hinterlassenenrente, anders als jene von Witwen, mit der Volljährigkeit des jüngsten Kindes erlischt. Er stellte in diesem Zusammenhang eine Verletzung von Art. 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fest. Somit ist zwecks Herstellung eines konventionskonformen Zustandes in vergleichbaren Konstellationen fortan darauf zu verzichten, die Witwerrente allein aufgrund der Volljährigkeit des jüngsten Kindes aufzuheben (vgl. BGE 143 I 50 E. 4.1 und 4.2; 143 I 60 E. 3.3; vgl. auch die Urteile 9C_281/2022 vom 28. Juni 2023 E. 3, 9C_481/2021 und 9C_749/2020 vom 9. Januar 2023 je E. 2.1 f.).  
 
2.3. Nach Erlass des Urteils Beeler statuierte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) in den Mitteilungen Nr. 460 vom 21. Oktober 2022 an die AHV-Ausgleichskassen und EL-Durchführungsstellen (nachfolgend: Mitteilungen Nr. 460) eine "Übergangsregelung für Witwerrenten der AHV in Folge Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) " mit Gültigkeit vom 11. Oktober 2022 bis zum Inkrafttreten einer nächsten Revision des AHVG betreffend die Hinterlassenenrenten. Davon betroffen sind bestimmte (explizit genannte) Personengruppen von Witwern, wobei die Gruppe von Ehegatten, die vor dem 11. Oktober 2022 verwitwet waren und zu diesem Zeitpunkt kein minderjähriges Kind (mehr) hatten, nicht als betroffen erwähnt ist. Für die Betroffenen werden (laut Mitteilungen Nr. 460) die Witwerrenten gemäss Artikel 23 AHVG gewährt und über das 18. Altersjahr des Kindes hinaus ausbezahlt. Die Leistungen sind also nicht mehr zeitlich befristet und erlöschen nur bei Tod, Wiederverheiratung oder Entstehung des Anspruchs auf eine höhere AHV-Altersrente bzw. IV-Rente. Analoge Vorgaben finden sich in Rz. 3401 ff. der Wegleitung des BSV über die Renten (RWL) in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (Stand: 1. Januar 2023, Version 18) resp. in Rz. 3138 und 3147 RWL in der aktuellen Fassung (Stand: 1. Januar 2024, Version 19).  
 
3.  
Die Vorinstanz hat erwogen, Art. 24 Abs. 2 AHVG verstosse zwar gegen das Diskriminierungsverbot von Art. 8 Abs. 3 BV; die Bestimmung sei aber aufgrund von Art. 190 BV (grundsätzlich) dennoch anzuwenden. Mangels Ratifizierung des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK vom 20. März 1952 sei die darauf basierende Rechtsprechung des EGMR zur diskriminierungsfreien Gewährung von Sozialleistungen für die Schweiz nicht verbindlich. Ein Verzicht auf die Anwendung von Art. 24 Abs. 2 AHVG falle daher nur in Betracht, wenn das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäss Art. 8 EMRK und folglich das Diskriminierungsverbot von Art. 14 EMRK betroffen seien. Laut Urteil Beeler sei entscheidend, ob die in Frage stehende Leistung auf die Förderung des Familienlebens abziele und sich notwendigerweise sowie tatsächlich auf die Organisation des Familienlebens auswirke.  
In concreto seien die Kinder des Beschwerdeführers bei dessen Verwitwung längst volljährig gewesen, weshalb kein Betreuungs- oder Erziehungsbedarf mehr bestanden habe. Eine wirtschaftliche Einbusse durch den Wegfall der Mitarbeit der verstorbenen Ehefrau im Betrieb des Witwers beschlage von vornherein nicht den Schutzbereich von Art. 8 EMRK, zumal dieser Umstand mit Blick auf die erwachsenen Kinder keine Implikationen auf die Organisation des Familienlebens habe. Ein Bedarf an (wirtschaftlicher) Unterstützung habe höchstens noch für den Sohn bestanden, der weiterhin bei seinem Vater lebe und sich in Erstausbildung befinde. Dass sich vor dem Hintergrund eines solchen Unterstützungsbedarfs eine Witwerrente notwendigerweise auf die Organisation des Familienlebens niederschlagen würde, sei nicht ersichtlich und auch nicht geltend gemacht worden. Damit sei der Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK (und folglich auch jener von Art. 14 EMRK) nicht betroffen. 
Aus den (für das Gericht ohnehin unverbindlichen) Weisungen des BSV in den Mitteilungen Nr. 460 und in Rz. 3401 aRWL resultiere für die vorliegende Konstellation ebenfalls kein Anspruch auf eine Witwerrente. Folglich hat die Vorinstanz - unbesehen der offensichtlichen Verfassungswidrigkeit von Art. 24 Abs. 2 AHVG - den Einspracheentscheid vom 14. Februar 2023 bestätigt. 
 
4.  
 
4.1. Der Beschwerdeführer macht im Wesentlichen geltend, obwohl der EGMR mit seinem Urteil Beeler klargemacht habe, dass er mit der Ungleichbehandlung von Mann und Frau resp. der Diskriminierung des Mannes in ähnlichen Fällen nicht einverstanden sei, werde er, der Beschwerdeführer, als Mann diskriminiert. Der Anspruch einer Frau auf eine Witwenrente entstehe unabhängig vom Alter der Kinder bei der Verwitwung resp. auch ohne Kinder, wenn sie bei der Verwitwung mindestens 45-jährig und fünf Jahre verheiratet gewesen sei. Das kantonale Gericht habe voreilige und voreingenommene Schlüsse zu seinem Familienleben gezogen, indem es beispielsweise angenommen habe, dass "höchstens noch für den Sohn ein wirtschaftlicher Unterhaltsbedarf bestehe" und "die wirtschaftliche Einbusse durch den Wegfall der Ehefrau im Betrieb des Witwers von vornherein nicht den Schutzbereich von Art. 8 EMRK beschlage". Er habe aufgrund des Hinschieds seiner Ehefrau eine erhebliche Veränderung in finanzieller und sozialer Hinsicht erfahren. Art. 8 EMRK beziehe sich auf die Gesamtheit der Lebenssituation und sei daher auf seinen Fall anzuwenden. Ausserdem kritisiert er die Übergangsregelung in den Mitteilungen Nr. 460. Sie sei willkürlich und unvollständig, weil sie keine Rückwirkung habe und das BSV für Männer, die vor dem 11. Oktober 2022 verwitweten und zu diesem Zeitpunkt (nur) volljährige Kinder hatten, keine Witwerrente statuiert habe.  
Ob die Beschwerde den (bezüglich Grundrechtsverletzungen erhöhten) Anforderungen an die Begründung (vgl. vorangehende E. 1) genügt, kann offenbleiben, wie sich aus dem Folgenden ergibt. 
 
4.2. Dass die vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen offensichtlich unrichtig (unhaltbar, willkürlich: BGE 147 IV 73 E. 4.1.2; 144 V 50 E. 4.2; 135 II 145 E. 8.1) sein sollen, wird nicht substanziiert geltend gemacht und ist auch nicht ersichtlich. Sie beruhen auch nicht auf einer Rechtsverletzung, weshalb sie für das Bundesgericht verbindlich bleiben (vgl. vorangehende E. 1).  
 
 
4.3.  
 
4.3.1. Die Vorinstanz hat zutreffend erkannt, dass weder eine Verletzung der Verfassungsbestimmung von Art. 8 Abs. 3 BV (zur Massgeblichkeit von Art. 24 Abs. 2 AHVG vgl. Art. 190 BV) noch eine Diskriminierung im Sinne von Art. 14 EMRK allein (zum akzessorischen Charakter des Diskriminierungsverbots von Art. 14 EMRK vgl. BGE 148 I 160 E. 8.1; 144 I 340 E. 3.5; 143 V 114 E. 5.3.2.2; Urteil Beeler §§ 47 f.) den umstrittenen Anspruch begründet, und ein solcher nur in Betracht fällt, wenn das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäss Art. 8 EMRK betroffen ist.  
 
4.3.2. In diesem Zusammenhang hat das kantonale Gericht - entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers - nicht nur den "Einzelbereich wirtschaftliche Einbusse", sondern die laut EGMR relevanten Kriterien berücksichtigt. Zwar hat jede Geldleistung regelmässig gewisse Auswirkungen auf die Gestaltung des Familienlebens der betreffenden Person; indessen ist damit allein der Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK noch nicht zu bejahen (Urteil Beeler § 67). Damit Art. 14 EMRK zum Tragen kommen kann, ist erforderlich, dass die umstrittene Leistung auf die Förderung des Familienlebens abzielt und sich notwendigerweise auf dessen Organisation auswirkt. Dazu sind insbesondere folgende Elemente in ihrer Gesamtheit massgebend: der Zweck der Leistung, die gesetzlichen Bedingungen für deren Gewährung (sowie Berechnung und Beendigung), die vom Gesetzgeber beabsichtigten Auswirkungen auf die Organisation des Familienlebens sowie die tatsächlichen Auswirkungen der Leistung im Einzelfall für den Beschwerdeführer und sein Familienleben (Urteil Beeler § 72).  
 
4.3.3. Die Vorinstanz hat zu Recht berücksichtigt, dass die hier zu beurteilende Situation erheblich von der Konstellation im Urteil Beeler abweicht (vgl. SVR 2023 AHV Nr. 24 S. 83, 9C_248/2023 E. 4.2). Der dort Betroffene war im Zeitpunkt des Todes seiner Ehefrau rund 41 Jahre alt und Vater von zwei Kleinkindern gewesen. Dagegen war der Beschwerdeführer rund 59 Jahre alt, als er verwitwete, und sein jüngstes Kind war zu diesem Zeitpunkt bereits 25 Jahre alt. Zwar mag für den Beschwerdeführer der Tod der Ehefrau zu einer erheblichen Veränderung in finanzieller und sozialer Hinsicht geführt haben. Indessen ist (wie bereits im vorinstanzlichen Verfahren) nicht ersichtlich, inwiefern sich dieser Umstand - resp. die Gewährung einer Witwerrente angesichts dieses Umstands - zwingend auf die Organisation des Familienlebens auswirken soll. Der blosse Hinweis auf die gesundheitlichen Probleme und die lange Ausbildungsdauer des Sohnes genügt jedenfalls nicht für eine entsprechende Annahme.  
 
4.3.4. Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz im Zusammenhang mit der Verweigerung der Witwerrente im konkreten Fall zu Recht eine Verletzung von Art. 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) verneint.  
 
4.4. Was die Kritik an den Mitteilungen Nr. 460 resp. den Weisungen in Rz. 3401 ff. aRWL (zur Bedeutung von Verwaltungsweisungen vgl. BGE 148 V 385 E. 5.2; 145 V 84 E. 6.1.1; 142 V 442 E. 5.2) anbelangt, so sind diese nicht unvollständig: Das BSV knüpfte für die Übergangsregelung an den Erlass des Urteils Beeler an und nahm damit implizit, aber unmissverständlich Ehegatten, die vor dem 11. Oktober 2022 verwitweten und zu diesem Zeitpunkt kein minderjähriges Kind mehr hatten, von deren Geltungsbereich aus (vgl. dazu auch Urteil 9C_558/2023 vom 29. Februar 2024 E. 3.2). Inwiefern das willkürlich im Sinne von Art. 9 BV sein soll, führt der Beschwerdeführer nicht aus, weshalb sich diesbezügliche Weiterungen erübrigen. Die Beschwerde ist auch in diesem Punkt unbegründet. Mangels eines Anspruchs auf eine Witwerrente zielen die Vorbringen betreffend deren Berechnung resp. den Umgang mit AHV-Beiträgen ins Leere.  
 
5.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 3. April 2024 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann