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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_535/2024  
 
 
Urteil vom 3. Juni 2024  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Abrecht, Präsident, 
Bundesrichter Hurni, Hofmann, 
Gerichtsschreiberin Mango-Meier. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Held, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich.  
 
Gegenstand 
Entlassung aus der Sicherheitshaft, 
 
Beschwerde gegen die Präsidialverfügung des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Strafkammer, Präsident, vom 9. April 2024 (SB230005-O/Z9/ad). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ wurde mit Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 8. September 2023 wegen versuchter vorsätzlicher Tötung im Sinne von Art. 111 StGB i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB und Art. 16 Abs. 1 StGB sowie wegen einfacher Körperverletzung im Sinne von Art. 123 Ziff. 2 Abs. 2 StGB i.V.m. Art. 16 Abs. 1 StGB schuldig gesprochen, mit einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren bestraft und in Anwendung von Art. 66a Abs. 1 lit. a StGB für die Dauer von 10 Jahren des Landes verwiesen. Dagegen erhob u.a. A.________ bundesgerichtliche Beschwerde in Strafsachen. Das Beschwerdeverfahren ist derzeit noch hängig. 
 
B.  
A.________ stellte mit Schreiben vom 28. März 2024 ein Gesuch um Entlassung aus der seit dem 26. Januar 2018 andauernden strafprozessualen Haft. Das Obergericht wies dieses mit Präsidialverfügung vom 9. April 2024 ab. 
 
C.  
Dagegen gelangt A.________ mit Beschwerde in Strafsachen vom 10. Mai 2024 an das Bundesgericht. Er beantragt, die Verfügung des Obergerichts des Kantons Zürich vom 9. April 2024 (SB230005) sei aufzuheben und er sei - allenfalls unter Anordnung von Ersatzmassnahmen - aus der Sicherheitshaft zu entlassen, eventualiter sei diese Verfügung aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Dies unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten des Kantons Zürich, eventualiter sei ihm für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und der Unterzeichnende als dessen Anwalt zu bestellen. 
Das Obergericht hat mit Schreiben vom 14. Mai 2024 (Posteingang: 21. Mai 2024) auf eine Stellungnahme zur Beschwerde verzichtet. Die Staatsanwaltschaft liess sich nicht vernehmen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid betreffend Haftentlassung. Dagegen steht die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht gemäss Art. 78 ff. BGG offen (Urteil 7B_ 304/2024 vom 11. April 2024 2024 E. 1.1). Der Beschwerdeführer hat am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und befindet sich in Haft. Er hat folglich ein aktuelles, rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids und ist somit gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten. 
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer macht zunächst eine mangelnde Begründung und Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend.  
 
2.2. Das Recht, angehört zu werden, ist formeller Natur. Seine Verletzung führt in der Regel ungeachtet der materiellen Begründetheit der Beschwerde zu deren Gutheissung und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (BGE 144 IV 302 E. 3.1; Urteil 6B_1137/2014 vom 19. Mai 2015 E. 2; je mit Hinweis[en]). Es rechtfertigt sich daher, diese Rüge vorweg zu prüfen.  
 
2.3.  
 
2.3.1. Gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 3 Abs. 2 lit. c und Art. 107 StPO haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör. Dieser Anspruch dient der Sachaufklärung und garantiert den Verfahrensbeteiligten ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht. Sie haben insbesondere Anspruch auf Äusserung zur Sache vor Erlass eines in ihre Rechtsstellung eingreifenden Entscheids (BGE 149 I 91 E. 3.2; 144 II 427 E. 3.1; Urteil 7B_263/2022 vom 8. April 2024 E. 2.1.1; je mit Hinweisen). Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst zudem das Recht, von den beim Gericht eingereichten Stellungnahmen Kenntnis zu erhalten und sich dazu äussern zu können, unabhängig davon, ob die Eingaben neue oder wesentliche Vorbringen enthalten (BGE 146 III 97 E. 3.4.1; 142 III 48 E. 4.1.1; 138 I 484 E. 2.1; je mit Hinweisen; siehe Urteil 7B_256/2023 vom 5. März 2024 E. 2.7). Dieses sog. Replikrecht gilt auch im Verfahren zur Anordnung von strafprozessualer Haft (Urteil 1B_192/2022 vom 12. Mai 2022 E. 3.1 mit Hinweisen). Der beschuldigten Person ist deshalb vor der Fortsetzung der strafprozessualen Haft Gelegenheit zu geben, sich dazu zu äussern; andernfalls liegt eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör vor (Urteil 1B_236/2021 vom 1. Juni 2021 E. 2.2 mit Hinweisen). Dasselbe gilt, wenn die beschuldigte Person während der Rechtshängigkeit des Berufungsverfahrens um Haftentlassung ersucht. In diesem Fall muss ihr die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts Stellungnahmen zu ihrem Gesuch zur Kenntnisnahme und allfälliger Replik zustellen, bevor sie innert fünf Tagen darüber entscheidet (Art. 109 Abs. 2 i.V.m. Art. 233 StPO). Die fünftägige Frist beginnt deshalb erst nach Abschluss des Schriftenwechsels (für den entsprechend kurze Fristen zu setzen sind) zu laufen, d.h. nach Eingang einer allfälligen Replik der beschuldigten Person (Urteil 7B_752/2023 vom 27. Oktober 2023 mit Hinweisen).  
 
2.3.2. Der Beschwerdeführer weist darauf hin, dass er über die telefonische Kontaktaufnahme der Beschwerdegegnerin mit der Vorinstanz nicht informiert worden sei. Gemäss der angefochtenen Verfügung teilte die Beschwerdegegnerin am 5. April 2024 der Vorinstanz telefonisch mit, dass "sie die Abweisung des Gesuchs beantrage und zur Begründung auf ihre bisherigen Eingaben im Zusammenhang mit früheren Haftentlassungsgesuchen des Beschuldigten verweise (insbesondere im ersten Berufungsverfahren mit der Geschäfts-Nr. SB210003; Urk. 288) ". Die Vorinstanz bestreitet nicht, dass sie vor ihrem Haftentscheid die - nur in einer Aktennotiz festgehaltene - mündliche Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vom 5. April 2024 dem Beschwerdeführer nicht zugestellt und ihm auch keine Gelegenheit zur Stellungnahme angesetzt hatte (vgl. Art. 228 Abs. 3 StPO). Auch aus den Vorakten ist nichts anderes ersichtlich. Es liegt mithin eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor.  
 
2.4.  
 
2.4.1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verlangt zudem, dass die Behörde die rechtserheblichen Vorbringen der Parteien tatsächlich hört, ernsthaft prüft und bei der Entscheidfindung angemessen berücksichtigt. Daraus folgt die Verpflichtung der Behörde, ihren Entscheid zu begründen (BGE 148 III 30 E. 3.1; Urteil 6B_161/2023 vom 19. April 2024 E. 2.2). Sie muss sich dabei nicht mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzen und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegen, sondern kann sich vielmehr auf die für den Entscheid wesentlichen Punkte beschränken (BGE 147 IV 409 E. 5.3.4; 150 III 1 E. 4.5; Urteil 6B_161/2023 vom 19. April 2024 E. 2.2; je mit Hinweisen). Die Begründung muss so abgefasst sein, dass die betroffene Person die Tragweite des Entscheids erkennen und ihn in voller Kenntnis der Sache an die höhere Instanz weiterziehen kann. In diesem Sinne müssen wenigstens kurz die Überlegungen genannt werden, von denen sich die Behörde hat leiten lassen und auf die sich ihr Entscheid stützt (BGE 141 IV 249 E. 1.3.1; 148 III 30 E. 3.1; Urteil 6B_161/2023 vom 19. April 2024 E. 2.2; je mit Hinweisen). Im Zusammenhang mit der Gewährung des rechtlichen Gehörs hat das Bundesgericht wiederholt auf die Bedenklichkeit sogenannter mehrseitiger "Dass-Entscheide" hingewiesen und festgehalten, diese würden die Lesbarkeit und Nachvollziehbarkeit erheblich erschweren (Urteile 1B_540/2022 vom 17. November 2022 E. 2; 1B_495/2022 vom 20. Oktober 2022 E. 2.2; je mit Hinweisen).  
 
2.4.2. Die Vorinstanz verfasste die angefochtene Verfügung von insgesamt zehn Seiten trotz der relativen Komplexität der zu prüfenden Sachverhalts- und Rechtsfragen im Stil eines "Dass-Entscheids". Das Bundesgericht hatte bereits zu einem früheren Zeitpunkt in einem den Beschwerdeführer betreffenden Haftverfahren auf die mit der Begründung "in Erwägung, dass..., dass..." verbundene Problematik hingewiesen. Es bezeichnete die damalige Situation - unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebots - als "Grenzfall" (Urteil 1B_495/2022 vom 20. Oktober 2022 E. 2.3). Seither sind mehr als anderthalb Jahre vergangen, in welchen sich der Beschwerdeführer in strafprozessualer Haft bzw. im vorzeitigen Vollzug befunden hat. Die durch die Vorinstanz gewählte Begründungstechnik ist gemäss der Rechtsprechung kürzeren Entscheiden vorbehalten (Urteil 6B_1223/2019 vom 27. März 2020 mit Hinweis). Die angefochtene Verfügung mit zehn Seiten ist nicht kurz gehalten und beschlägt durch den Verzicht auf eine ausformulierte Begründung die Lesbarkeit und Nachvollziehbarkeit erheblich. In Haftangelegenheiten ist es unabdingbar, dass Entscheide hinreichend verständlich sind und sich die betroffene Person über deren Tragweite rasch Rechenschaft geben sowie sie in voller Kenntnis der Sache an die höhere Instanz weiterziehen kann. Die in der angefochtenen Verfügung verwendete "Dass-Begründung" wird dem durch den mit der mehrjährigen Haftdauer verbundenem massivem Eingriff in die Grundrechte des Beschwerdeführers nicht gerecht. Bei einer Inhaftierung von rund 6 Jahren und 4 Monaten erfüllt eine solche Formulierung einer zehnseitigen Verfügung die Mindestanforderungen an eine gehörige Begründung nicht und verletzt damit das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers.  
 
2.5. Aufgrund des Gesagten erweist sich die Kritik des Beschwerdeführers als begründet und es muss von einer mehrfachen Verletzung des rechtlichen Gehörs des Beschwerdeführers ausgegangen werden. Dem Beschwerdeführer ist die Gelegenheit zu geben, sich zum Antrag und zur Begründung mit Verweis auf die bisherigen Eingaben der Staatsanwaltschaft zu äussern. Infolgedessen könnten sich für die Prüfung der Haftvoraussetzungen (insbesondere des besonderen Haftgrunds der Fluchtgefahr) Sachverhaltsfragen stellen, welche das Bundesgericht mangels voller Kognition - im Gegensatz zur Vorinstanz - nicht zu beantworten vermag (siehe Art. 97 BGG; Urteile 1B_429/2019 vom 23. September 2019 E. 2.4; 1B_281/2015 vom 15. September 2015 E. 5.1). Es ist denn auch nicht Aufgabe des Bundesgerichts die ungenügende Begründung aufgrund des trotz langem Freiheitsentzug ergangenem "Dass-Entscheids" zu beheben. Vielmehr kann das Bundesgericht einen Entscheid, welcher der Beschwerde an das Bundesgericht unterliegt und die inhaltlichen Minimalanforderungen nicht erfüllt, an die Vorinstanz zur Verbesserung zurückweisen oder aufheben (Art. 112 Abs. 3 BGG; Urteil 5A_913/2018 vom 14. Mai 2019 E. 2.1). Angesichts der Gehörsverletzungen kommt eine Heilung im bundesgerichtlichen Verfahren nicht in Betracht. Unter diesen Umständen erübrigt es sich, auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers einzugehen.  
 
3.  
 
3.1. Nach dem Vorangegangenen ist die Beschwerde teilweise gutzuheissen. Die angefochtene Verfügung ist aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird nach Gewährung des rechtlichen Gehörs in Nachachtung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen (Art. 5 Abs. 2 i.V.m. Art. 233 StPO) unverzüglich neu zu entscheiden haben, ob die strafprozessualen Haftvoraussetzungen erfüllt sind.  
 
3.2. Da die materiell-rechtliche Prüfung der Beschwerde unterbleibt, ist der Hauptantrag des Beschwerdeführers auf Haftentlassung abzuweisen (BGE 125 I 113 E. 3; Urteile 7B_984/2023 vom 8. Januar 2024 E. 3.2.2 mit Hinweis; 1B_89/2008 vom 28. April 2008 E. 5).  
 
3.3. Bei diesem Verfahrensausgang obsiegt der Beschwerdeführer teilweise. Insoweit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos. Im Zusammenhang mit dem Rechtsbegehren der Haftentlassung ist ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren (vgl. Art. 64 BGG). Angesichts der Umstände sind für das bundesgerichtliche Verfahren keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und Abs. 4 BGG). Der Kanton Zürich hat dem Beschwerdeführer eine reduzierte Parteientschädigung zu entrichten (vgl. Art. 68 BGG). Diese ist praxisgemäss seinem Rechtsvertreter zu bezahlen. Im Übrigen ist der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers aus der Bundesgerichtskasse zu entschädigen (Art. 64 Abs. 2 BGG i.V.m. Art. 68 Abs. 1 BGG).  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen, die Präsidialverfügung vom 9. April 2024 des Obergerichts des Kantons Zürich aufgehoben und die Haftsache zu erneuter Entscheidung an das Obergericht zurückgewiesen.  
 
1.2. Das vor Bundesgericht gestellte Gesuch auf Haftentlassung wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.  
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird gutgeheissen, soweit es nicht gegenstandslos wird, und es wird dem Beschwerdeführer Rechtsanwalt Thomas Held als unentgeltlicher Rechtsbeistand beigegeben. 
 
3.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
4.  
 
4.1. Der Kanton Zürich hat dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Thomas Held, für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- zu bezahlen.  
 
4.2. Im Übrigen wird Rechtsanwalt Thomas Held aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 500.-- entschädigt.  
 
5.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, Präsident, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 3. Juni 2024 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Abrecht 
 
Die Gerichtsschreiberin: Mango-Meier