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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_38/2024  
 
 
Urteil vom 28. Juni 2024  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiber Jancar. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva), Rechtsabteilung, Fluhmattstrasse 1, 6002 Luzern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Andrea Cantieni, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (Integritätsentschädigung), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 20. Juni 2023 (S 22 62). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1981 geborene A.________ arbeitete seit 1. September 2017 als Betriebsschlosser für die B.________ AG und war dadurch bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) obligatorisch unfallversichert. Am 8. September 2018 zog er sich bei einem Motorradunfall multiple Verletzungen zu. Die Suva kam für die Heilbehandlung und das Taggeld auf. Durch Unterstützung der IV-Stelle des Kantons Graubünden fand A.________ per 1. April 2022 eine Festanstellung als Mitarbeiter First Level Support und IT-Schulungen im Bereich berufliche Integration SVA bei C.________. Mit Verfügung vom 25. Februar 2022 verneinte die Suva einen Rentenanspruch, da die Erwerbseinbusse bloss 5 % betrage. Sie sprach dem Versicherten eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 35 % zu. Hieran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 10. Juni 2022 fest. 
 
B.  
Die hiergegen von A.________ erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden gut. Es änderte den Einspracheentscheid der Suva insoweit ab, als es feststellte, dass er Anspruch auf eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 50 % habe (Urteil vom 20. Juni 2023). 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Suva, ihr Einspracheentscheid sei in Aufhebung des kantonalen Urteils zu bestätigen. 
A.________ schliesst auf Beschwerdeabweisung. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 145 V 57 E. 4.2). Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2, Art. 105 Abs. 3 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Strittig ist, ob die vorinstanzliche Zusprache einer Integritätsentschädigung von 50 % anstatt von 35 % vor Bundesrecht standhält.  
 
2.2. Die Vorinstanz hat die rechtlichen Grundlagen und die Rechtsprechung betreffend den Anspruch auf eine Integritätsentschädigung (Art. 24 f. UVG; Art. 36 UVV; BGE 124 V 29; 116 V 156 E. 3a und b; SVR 2023 UV Nr. 24 S. 78, 8C_316/2022 E. 6.1.2.1, 2008 UV Nr. 10 S. 32, U 109/06 E. 6; RKUV 1998 Nr. U 296 S. 235, E. 2a; Urteil 8C_300/2020 vom 2. Dezember 2020 E. 4.3 mit Hinweisen) und den Beweiswert ärztlicher Berichte (BGE 145 V 97 E. 8.5; 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.  
 
2.3.  
 
2.3.1. Zu wiederholen ist Folgendes: Führen ein versichertes Ereignis oder mehrere versicherte Ereignisse zu verschiedenen Integritätsschäden, wird die Integritätsentschädigung gemäss Art. 36 Abs. 3 UVV nach der gesamten Beeinträchtigung festgesetzt, wobei die Gesamtentschädigung den Höchstbetrag des versicherten Jahresverdienstes nicht übersteigen darf. Die den einzelnen Schädigungen entsprechenden Prozentzahlen werden selbst dann zusammengezählt, wenn eine, mehrere oder alle davon für sich die Schwelle von 5 % nicht erreichen; die Entschädigung ist geschuldet, sobald die Summe der Prozentzahlen die Erheblichkeitsgrenze von 5 % übersteigt (BGE 116 V 156 E. 3b; SVR 2023 UV Nr. 24 S. 78, 8C_316/2022 E. 6.1.2.1).  
 
2.3.2. Von verschiedenen Integritätsschäden ist auszugehen, wenn die Beeinträchtigungen sich medizinisch eindeutig feststellen und in ihren Auswirkungen voneinander klar unterscheiden lassen. Klar unterscheidbare und sich gegenseitig nicht beeinflussende Integritätsschäden sind grundsätzlich zu addieren (Urteil 8C_300/2020 vom 2. Dezember 2020 E. 4.3 mit Hinweisen). Nach der Addition der den einzelnen Schädigungen entsprechenden Prozentzahlen ist eine Gesamtwürdigung vorzunehmen und zu beurteilen, ob das Ergebnis im Vergleich mit anderen Integritätsschäden in Anhang 3 zur UVV gerecht und verhältnismässig ist (RKUV 1998 Nr. U 296 S. 235 E. 2a mit Hinweis; Urteil U 556/06 vom 17. Dezember 2007 E. 3.2). Das Gesetz will in der Unfallversicherung Integritätsschäden nicht nur als solche - nach Massgabe des im Einzelfall erhobenen medizinischen Befundes - egalitär-abstrakt abgelten (BGE 113 V 218 E. 4b), sondern auch im Quervergleich zu anderen Schädigungen, wie sie Anhang 3 zur UVV tarifiert, unter Berücksichtigung von deren Bewertung durch den Verordnungsgeber angemessen entschädigen (Urteil U 133/06 vom 11. Januar 2007 E. 4.1).  
 
2.4. Zu ergänzen ist, dass die Feststellung des Integritätsschadens eine Tatfrage betrifft, die ein Mediziner zu beantworten hat. Demgegenüber gehört es zur Aufgabe der rechtsanwendenden Behörde bzw. des Gerichts, die Beweise frei zu würdigen (Art. 61 lit. c ATSG) und nötigenfalls weitere medizinische Abklärungen zu veranlassen (Urteil 8C_300/2020 vom 2. Dezember 2020 E. 4.3 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 140 V 193 E. 3.2).  
 
3.  
 
3.1. Der Kreisarzt Dr. med. D.________, Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, stützte sich im Bericht vom 1. Februar 2022 betreffend die Beurteilung des Integritätsschadens auf die Suva-Tabelle 5, Integritätsschaden bei Arthrosen. Er stellte eine verbliebene Belastungsintoleranz des linken Beins mit Bewegungseinschränkung des linken Knies und des Sprunggelenks fest. Es bestehe eine fortgeschrittene Arthrose femorotibial mit schicksalshaft langfristig möglicher Endoprothesenversorgung bei zu erwartender ordentlicher Kniefunktion. Deshalb sei der Beschwerdegegner besser gestellt als bei einer Arthrodese mit aufgehobener Kniefunktion, so dass für das linke Kniegelenk 20 % angemessen seien. Weiter liege eine bereits fortgeschrittene Arthrose des oberen Sprunggelenks (OSG) mit schicksalshaft langfristig zu erwartender Arthrodese vor, weshalb diesbezüglich 15 % angemessen seien. Zudem bestehe eine Teilarthrose im Chopart-Gelenk mässiggradig mit schicksalshaft langfristig zu erwartender Progredienz und allenfalls notwendiger Arthrodese, so dass hierfür 15 % angemessen seien. Rechnerisch ergebe dies gesamthaft 50 %. Im Quervergleich werde jedoch ein Verlust des Beins im Kniegelenk mit 40 % beziffert. Der Beschwerdegegner sei nach allenfalls endoprothetischer Versorgung im Kniegelenk, Arthrodese im linken OSG und im Chopart-Gelenk bei erhaltener Kniefunktion und noch erhaltenem Bein wesentlich bessergestellt. Deshalb sei im Quervergleich die Festlegung des Integritätsschadens auf 35 % angemessen. Dies entspreche einer Amputation im Unterschenkel, Bild 12, Tabelle 4 (Integritätsschaden bei einfachen oder kombinierten Zehen-, Fuss- und Beinverlusten), die 35 % betrage. Eine weitere Verschlimmerung sei damit berücksichtigt.  
 
3.2. Die Vorinstanz erwog zusammengefasst, aus dieser kreisärztlichen Einschätzung lasse sich nicht ableiten, dass sich die drei Beeinträchtigungen in ihrer Wirkung überlagerten oder gar gegenseitig verstärkten. Praxisgemäss bleibe es bei Integritätsschäden, die sich gegenseitig nicht beeinflussten bzw. klar voneinander unterscheidbar seien, grundsätzlich bei der Addition der einzelnen Prozentwerte (Urteil 8C_300/2020 vom 2. Dezember 2020 E. 4.3). Der Kreisarzt habe nicht näher begründet, inwiefern die Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers im Knie, im OSG und im Fuss mit einem amputierten Bein (sei es im Kniegelenk oder unterhalb) vergleichbar seien und eine wesentliche Besserstellung bedeuteten. Der Kreisarzt berücksichtige im Quervergleich nicht die Schwere der Arthrose und die damit verbundenen Schmerzen, und sein Ergebnis erscheine als unangemessen. Abgesehen davon, dass fraglich sei, ob ein solcher Quervergleich und die darauf gestützte Reduktion des Integritätsschadens im vorliegenden Fall mangels Überlagerung der Beeinträchtigungen angesichts der neueren Rechtsprechung überhaupt zulässig sei, und in Anbetracht dessen, dass bei allfälligen Korrekturen im Rahmen des Quervergleichs eine gewisse Zurückhaltung angebracht sei, vermöge die kreisärztliche Einschätzung nicht zu überzeugen. Bereits bei geringen Zweifeln dürfe darauf nicht abgestellt werden. Somit müsse es beim nachvollziehbaren Gesamtwert von 50 % sein Bewenden haben.  
 
4.  
 
4.1. Vorliegend setzt sich der Integritätsschaden aus mehreren Teilkomponenten zusammen, welche indessen alle die linke untere Extremität des Beschwerdegegners betreffen (vgl. E. 3.1 hiervor; siehe auch Urteil U 100/98 vom 30. November 1998 E. 3c). Dr. med. D.________ schätzte die Integritätseinbusse im Sinne der Summe aller Teilkomponenten auf 50 %. Er kam jedoch zum Schluss, bei erhaltener Kniefunktion und noch erhaltenem Bein sei der Beschwerdegegner wesentlich bessergestellt als bei Verlust des Beins im Kniegelenk, wofür gemäss Anhang 3 zur UVV eine Entschädigung von 40 % bestehe. Deshalb hielt er eine Integritätsentschädigung von 35 % für angemessen (vgl. E. 3.1 hiervor).  
 
Dr. med. D.________ und ihm folgend die Suva berücksichtigten die von ihr in Weiterentwicklung der bundesrätlichen Skala tabellarisch erarbeiteten Bemessungsgrundlagen, welche grundsätzlich mit dem Anhang 3 zur UVV vereinbar sind (BGE 124 V 29 E. 1c; 116 V 156 E. 3a). In Tabelle 4 wird dem Befund nach einer Oberschenkelamputation oder Exartikulation im Hüftgelenk ein Richtwert von 50 %, nach einer Exartikulation aus dem Kniegelenk ein solcher von 40 % und nach einer Amputation unterhalb des Kniegelenkes ein Wert von 35 % zugeordnet. Dr. med. D.________ kam zum überzeugenden Ergebnis, die im vorliegenden Fall bestehende Beeinträchtigung des linken Beines sei nicht einem vollständigen Verlust gleichzusetzen (vgl. auch Urteil U 100/98 vom 30. November 1998 E. 3c). Inwiefern er mit der Festsetzung des Integritätsschadens auf 35 % die Schwere der Arthrose nicht berücksichtigt hätte, zeigt die Vorinstanz nicht auf und ist nicht ersichtlich, wie sich auch aus Folgendem ergibt. 
 
4.2.  
 
4.2.1. Die Vorinstanz argumentiert, der Kreisarzt habe im Quervergleich nicht die mit der Arthrose des Beschwerdegegners verbundenen Schmerzen berücksichtigt.  
Die Suva macht geltend, die Integritätsentschädigung werde nach dem medizinischen Befund bemessen, wobei subjektive Faktoren - wie die beklagten Schmerzen - grundsätzlich ausser Acht gelassen würden, da die Bemessung der Integritätsentschädigung abstrakt und egalitär zu erfolgen habe (BGE 115 V 147 E. 1; 113 V 218 E. 4b). Schmerzen würden gemäss Anhang 3 zur UVV einzig der Tabelle 7 "Integritätsschaden bei Wirbelsäulenaffektionen" ausdrücklich zugrunde gelegt. Für eine additive analoge Anwendung der Tabelle 7 für Schmerzen, die aus einer (bereits in einer weiteren Tabelle berücksichtigten) physischen Integritätseinbusse resultieren, bestehe kein Raum. Dies würde denn auch dem Grundsatz der Gleichberechtigung und egalitären und abstrakten Bemessung zuwiderlaufen. 
 
4.2.2. Der Suva ist beizupflichten, dass Schmerzen als Integritätsschaden einzig im Rahmen der Suva-Tabelle 7 betreffend "Integritätsschäden bei Wirbelsäulenaffektionen" berücksichtigt werden. Die bundesgerichtliche Praxis zur Frage, ob die in dieser Tabelle enthaltene Schmerzskala hilfsweise auf die Bemessung des Integritätsschadens bei Schmerzen in anderen Körperbereichen oder bei psychisch bedingten Schmerzen anzuwenden ist, zeigt sich uneinheitlich. In den Urteilen 8C_362/2014 vom 25. Juni 2014 E. 6.2 f. (betreffend Unterschenkel) und 8C_139/2009 vom 26. August 2009 E. 5.1 (bezüglich Kopfschmerzen) bejahte das Bundesgericht diese Frage. Dagegen verneinte es sie in den Urteilen 8C_407/2011 vom 1. September 2011 E. 10 (betreffend Schulter, vgl. Sachverhalt lit. A) und 8C_768/2007 vom 4. August 2008 E. 5.2.2 (bezüglich Psyche).  
Wie diese Frage einheitlich zu beantworten ist, kann hier letztlich offen bleiben. Denn die Vorinstanz zeigt keinen Arztbericht auf, der für eine zusätzliche Berücksichtigung der Schmerzen bei der Bemessung der Integritätsentschädigung des Beschwerdegegners spricht. Entsprechende Hinweise sind auch nicht ersichtlich. 
 
4.3. Insgesamt bestehen keine auch nur geringen Zweifel an der Beurteilung des Dr. med. D.________ vom 1. Februar 2022, wonach der Integritätsschaden des Beschwerdegegners 35 % beträgt (vgl. BGE 145 V 97 E. 8.5). Die Vorinstanz hat mit der Addition der einzelnen Integritätsschäden auf 50 % eine rechtsfehlerhafte Ermessensausübung vorgenommen, was bundesrechtswidrig ist (Art. 24 Abs. 1 UVG; Art. 95 lit. a BGG; SVR 2023 UV Nr. 41 S. 146, 8C_478/2022 E. 6.1). Das angefochtene Urteil ist somit aufzuheben.  
 
5.  
Der unterliegende Beschwerdegegner trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Suva, die in ihrem amtlichen Wirkungskreis obsiegt, hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 20. Juni 2023 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid der Suva vom 10. Juni 2022 wird bestätigt. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, 2. Kammer als Versicherungsgericht, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 28. Juni 2024 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Jancar