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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_527/2023  
 
 
Urteil vom 19. September 2023  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Koch, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Kölz, Hofmann, 
Gerichtsschreiber Schurtenberger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Angelina Grossenbacher, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Nordring 8, Postfach, 3001 Bern. 
 
Gegenstand 
Anordnung Sicherheitshaft, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts 
des Kantons Bern, 2. Strafkammer, Präsidentin, 
vom 3. August 2023 (SK 23 176). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Urteil des Regionalgerichts Bern-Mittelland vom 1. Februar 2023 wurde A.________ wegen mehrfach begangener Gewalt und Drohungen gegen Behörden und Beamten, mehrfach begangener einfacher Körperverletzung, mehrfach begangenen Hausfriedensbruchs, mehrfach begangener Widerhandlungen gegen das Betäubungsdelikt und zahlreicher weiterer Delikte insbesondere zu einer Freiheitsstrafe von 14 Monaten verurteilt, die zugunsten einer stationären therapeutischen Massnahme nach Art. 59 StGB aufgeschoben wurde. 
 
B.  
A.________ erhob gegen die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme Berufung beim Obergericht des Kantons Bern. Im Übrigen ist das Urteil des Regionalgerichts Bern-Mittelland vom 1. Februar 2023 in Rechtskraft erwachsen. 
Mit Urteil vom 3. August 2023 ordnete das Obergericht eine stationäre Massnahme nach Art. 59 StGB an. Zudem verfügte es, dass A.________ bis zum Antritt der stationären therapeutischen Massnahme in Sicherheitshaft belassen wird. 
 
C.  
Gegen die Anordnung der Sicherheitshaft erhob A.________ mit Eingabe seiner Rechtsanwältin vom 25. August 2023 beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, die Ziff. V. 1 des Urteils des Obergerichts des Kantons Bern vom 3. August 2023 (Sicherheitshaft) aufzuheben und ihn unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Eventualiter sei die Sache diesbezüglich zum erneuten Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. Weiter beantragt er die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung für das bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren. 
Die Vorinstanz hat mit Schreiben vom 31. August 2023 eine Vernehmlassung eingereicht. Die Staatsanwaltschaft hat sich nicht vernehmen lassen. A.________ hat mit zwei eigenhändigen Schreiben vom 3. September 2023 und 6. September 2023 Stellung bezogen und zudem die Verlegung in ein anderes Gefängnis beantragt. Mit Eingabe seiner Rechtsanwältin vom 13. September 2023 hat er sodann repliziert. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Der angefochtene kantonal letztinstanzliche Entscheid betrifft die Anordnung von Sicherheitshaft (Art. 231 ff. StPO). Dagegen steht die Beschwerde in Strafsachen nach Art. 78 ff. BGG offen. Der Beschwerdeführer hat am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und befindet sich, soweit aus den Akten ersichtlich, nach wie vor in Haft. Er ist deshalb nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, weshalb auf die Beschwerde mit der nachfolgenden Beschränkung einzutreten ist.  
 
1.2. Nach Art. 99 Abs. 2 BGG sind neue Begehren im bundesgerichtlichen Beschwerdeverfahren unzulässig. Der Beschwerdeführer stellt sein Begehren, in ein anderes Gefängnis verlegt zu werden, erstmals vor Bundesgericht. Darauf kann nicht eingetreten werden.  
 
1.3. Bei Beschwerden, die gestützt auf das Recht der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2, Art. 31 Abs. 2 BV) wegen strafprozessualer Haft erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffes die Auslegung und Anwendung der StPO frei; Art. 98 BGG gelangt hier nicht zur Anwendung (BGE 143 IV 330 E. 2.1 mit Hinweisen). Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen (Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 143 IV 330 E. 2.1 mit Hinweis).  
 
2.  
Nach Art. 221 StPO sind Untersuchungs- und Sicherheitshaft unter anderem zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (Abs. 1 lit. a; sog. Fluchtgefahr) oder durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (Abs. 1 lit. c; sog. Wiederholungsgefahr). An Stelle der Haft sind Ersatzmassnahmen anzuordnen, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (Art. 212 Abs. 2 lit. c und Art. 237 ff. StPO). 
Die Vorinstanz bejaht gestützt auf die erst- und zweitinstanzliche Verurteilung des Beschwerdeführers sowohl das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts als auch der besonderen Haftgründe der Flucht- und Wiederholungsgefahr. Sodann beurteilt sie die Haft als verhältnismässig, da der Beschwerdeführer ernsthaft mit einer längerfristigen stationären Massnahme nach Art. 59 StGB rechnen müsse. 
 
3.  
Der Beschwerdeführer bestreitet weder das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts noch von besonderen Haftgründen. Er bestreitet einzig die Rechtmässigkeit der angeordneten Massnahme und damit die Verhältnismässigkeit der Haft. 
 
3.1. Die Vorinstanz hält zusammengefasst fest, bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit komme es nicht nur auf die zu erwartende Freiheitsstrafe an, sondern auch auf die mögliche Dauer einer freiheitsentziehenden Massnahme. Die Dauer der Massnahme hänge vom Behandlungserfolg ab. Die Gutachterin bestätige diesbezüglich, dass von einem längeren Behandlungsprozess auszugehen sei. Mit Blick auf die mangelnde Therapiewilligkeit und Krankheitseinsicht des Beschuldigten, welche zunächst im Vordergrund der stationären Massnahme stehe, gehe die Kammer mit der Gutachterin von einem längeren Behandlungsprozess aus. Die Dauer der zu erwartenden stationären Massnahme werde die bisherige Haftdauer daher bei weitem Übersteigen, weshalb keine Überhaft drohe.  
 
3.2. Liegt bereits ein Urteil in der Sache vor, so hat die beschuldigte Person, welche die Strafbarkeit bestreitet, das Strafmass als überhöht kritisiert oder wie vorliegend die Anordnung einer Massnahme als verfehlt erachtet, darzulegen, inwiefern das Strafurteil klarerweise fehlerhaft erscheint bzw. inwiefern eine entsprechende Korrektur im Berufungsverfahren mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Soweit bereits eine Urteilsbegründung vorliegt, haben sich die Parteien des Haftprüfungsverfahrens auch mit den betreffenden Erwägungen des Sachrichters auseinanderzusetzen (siehe Urteil 7B_146/2023 vom 11. Juli 2023 E. 3.3 mit Hinweis).  
 
3.3. Diesen Anforderungen genügt der Beschwerdeführer nicht. Er bringt in erster Linie vor, das Gutachten äussere sich nicht hinreichend dazu, ob die stationäre therapeutische Massnahme zur tatsächlichen und deutlichen Reduktion des Rückfallrisikos innerhalb der Regeldauer von 5 Jahren beitragen könne. Indessen weist er selbst darauf hin, dass die Gutachterin ausdrücklich bestätige, eine stationäre therapeutische Massnahme stelle die einzige mögliche Behandlung dar. Der Umstand allein, dass die Gutachterin sich zu Erfolgsaussicht und erforderlicher Dauer der Massnahme zurückhaltend äussert und sich ausserstande sieht, diesbezüglich eine präzise Erfolgsprognose abzugeben, ist jedenfalls nicht ausreichend, um die "klare Fehlerhaftigkeit" des Entscheids in der Hauptsache aufzuzeigen. Ob sich angesichts der gutachterlichen Einschätzungen, welche sich entgegen der Vorbringen des Beschwerdeführers mitunter ausdrücklich auf die Erfolgsaussichten einer Behandlung beziehen, die Anordnung einer stationären Massnahme vorliegend rechtfertigt, wird entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers nicht erneut, sondern ausschliesslich im (bereits angekündigten) Beschwerdeverfahren gegen den Entscheid in der Hauptsache zu prüfen sein.  
 
3.4. Unbehelflich sind sodann die Vorbringen des Beschwerdeführers, die Dauer des übergangsweisen Aufenthalts in einer Straf- oder Haftanstalt zwecks Unterbringung in einer geeigneten Einrichtung sei vorliegend zu lange. Zwar ist richtig, dass die Unterbringung in einer Straf- oder Haftanstalt ohne Behandlung in Widerspruch zu der rechtskräftigen Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme steht (BGE 142 IV 105 E. 5.8.1). Hier liegt indessen gerade noch keine rechtskräftige Anordnung einer Massnahme vor und hatte der Beschwerdeführer bis zum Abschluss des vorinstanzlichen Verfahrens auch noch nicht den vorzeitigen Massnahmenvollzug (vgl. dazu das zur Publikation bestimmte Urteil 2C_523/2021 vom 25. April 2023 E. 7.1) beantragt.  
Vielmehr verhält sich der Beschwerdeführer offensichtlich widersprüchlich, wenn er einerseits ausdrücklich darauf hinweist, eine "Störungseinsicht oder eine Behandlungsbereitschaft" sei "auch im aktuellen Zeitpunkt immer noch nicht gegeben", und die Anordnung einer Massnahme als "Zeitverschwendung" bezeichnet, andererseits aber das Vorliegen einer unzulässigen "Organisationshaft" rügt und vorbringt, im Rahmen einer zivilrechtlichen Erwachsenenschutzmassnahme könnte "eine adäquate Behandlung seiner Schizophrenie innert nützlicher Frist angegangen werden", sofern er denn nur aus der Sicherheitshaft entlassen werde. 
Anzumerken bleibt, dass nicht ersichtlich ist, inwiefern der Beschwerdeführer seine strafprozessualen Rechte aufgeben müsste, um im Rahmen des vorzeitigen Massnahmenvollzugs von einer raschen und adäquaten Behandlung zu profitieren, bleibt es ihm doch auch diesfalls jederzeit möglich, ein Gesuch um Entlassung aus der Sicherheitshaft zu stellen, worauf er in seiner Replik im Übrigen selbst hinweist (vgl. BGE 143 IV 160 E. 2). 
 
3.5. Zusammengefasst ist festzuhalten, dass sich die Anordnung von Untersuchungshaft vorliegend angesichts der erst- und zweitinstanzlichen Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer stationären Massnahme nach Art. 59 StGB ohne weiteres als verhältnismässig im Sinne von Art. 212 Abs. 3 StPO erweist.  
 
4.  
Der Beschwerdeführer rügt weiter, die Vorinstanz habe die Sicherheitshaft zu Unrecht nicht zeitlich begrenzt, sondern "bis zum Antritt der therapeutischen Massnahme" angeordnet. 
Auch diese Rüge ist unbegründet. Nach konstanter Rechtsprechung erfolgt keine periodische Überprüfung der Sicherheitshaft, sobald das Berufungsgericht mit der Sache befasst ist. Die beschuldigte Person kann gestützt auf Art. 233 StPO aber jederzeit ein Haftentlassungsgesuch stellen (BGE 139 IV 186 E. 2.2.3; Urteil 1B_540/2022 vom 17. November 2022 E. 6.1). Das Urteil 1B_96/2021 vom 25. März 2021, auf welches sich der Beschwerdeführer beruft und welches den neu in den Art. 364a und 364b StPO geregelten Fall der Sicherheitshaft im selbständigen nachträglichen Gerichtsverfahren behandelte (a.a.O. E. 5), ist vorliegend nicht einschlägig. 
 
5.  
Die Beschwerde erweist sich als offensichtlich unbegründet, weshalb sie im vereinfachten Verfahren nach Art. 109 Abs. 2 lit. a BGG abzuweisen ist. 
Bei diesem Verfahrensausgang ist der Beschwerdeführer grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Indessen beantragt er die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung für das Verfahren vor Bundesgericht. Deren Gewährung setzt jedoch insbesondere voraus, dass die gestellten Rechtsbegehren nicht aussichtlos erscheinen (Art. 64 Abs. 1 BGG). Diese Voraussetzung ist vorliegend nicht erfüllt, weshalb das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung abzuweisen ist. Angesichts der Gesamtumstände rechtfertigt es sich indessen, ausnahmsweise auf die Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren wird abgewiesen. 
 
3.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
4.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, Präsidentin, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 19. September 2023 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Koch 
 
Der Gerichtsschreiber: Schurtenberger