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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_1002/2023  
 
 
Urteil vom 15. November 2023  
 
I. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Muschietti, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
Gerichtsschreiberin Arquint Hill. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Postfach 3439, 6002 Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Keine Berufungserklärung eingereicht (geringfügiger Diebstahl), 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Kantonsgerichts Luzern, 2. Abteilung, vom 21. Juni 2023 (4M 23 58). 
 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:  
 
1.  
Das Bezirksgericht Hochdorf sprach den Beschwerdeführer mit Urteil vom 16. Januar 2023 vom Vorwurf des geringfügigen Diebstahls, begangen am 1. März 2021 zwischen 08:30 und 09:00 Uhr, frei. Hingegen sprach es ihn wegen geringfügigen Diebstahls, begangen am 1. März 2021 um 15:36 Uhr, schuldig und büsste ihn mit Fr. 150.-- (Ersatzfreiheitsstrafe 2 Tage). Dagegen meldete der Beschwerdeführer Berufung an, worauf das Bezirksgericht das Urteil begründete und die Akten zur Durchführung des Berufungsverfahrens an das Kantonsgericht Luzern übermittelte. Dieses trat am 21. Juni 2023 auf die Berufung nicht ein, weil bei ihm eine Berufungserklärung innert Frist nicht eingegangen war. Zur Begründung führt es aus, der Beschwerdeführer habe Berufung angemeldet und folglich mit Zustellungen rechnen müssen. Das begründete Urteil des Bezirksgerichts sei gemäss "Track & Trace"-Auszug am 12. Mai 2023 zur Abholung gemeldet und am 20. Mai 2023 retourniert worden, nachdem der Beschwerdeführer es innert Frist nicht abgeholt habe. Das bezirksgerichtliche Urteil gelte daher gemäss Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO als am 20. Mai 2023 zugestellt. 
 
2.  
Der Beschwerdeführer wendet sich mit Beschwerde an das Bundesgericht und beantragt die Aufhebung der vorinstanzlichen Nichteintretensverfügung vom 21. Juni 2023 und eine erneute Zustellung des begründeten Urteils des Bezirksgerichts vom 16. Januar 2023. Unter Hinweis namentlich auf eine E-Mail der Schweizerischen Post vom 12. Juli 2023 macht er geltend, er habe in Bezug auf das eingeschrieben versandte Urteil des Bezirksgerichts Hochdorf nie eine Einladung zur Abholung erhalten. 
 
3.  
Die Zustellung einer eingeschriebenen Postsendung, die nicht abgeholt worden ist, gilt am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als erfolgt, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste (vgl. Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO). 
Die Beweislast für die Zustellung von Verfügungen und Entscheiden trägt die Behörde. Sie hat auf geeignete Art den Beweis dafür zu erbringen, dass und wann die Zustellung erfolgt ist (BGE 129 I 8 E. 2.2) bzw. dass der erste - erfolglose - Zustellungsversuch tatsächlich stattgefunden hat (Urteil 2C_780/2010 vom 21. März 2011 E. 2.3 und 2.4). Entgegen dieser allgemeinen Beweislastverteilung gilt bei eingeschriebenen Postsendungen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts eine widerlegbare Vermutung, dass der oder die Postangestellte den Avis ordnungsgemäss in den Briefkasten oder in das Postfach des Empfängers gelegt hat und das Zustellungsdatum korrekt registriert worden ist. Es findet in diesem Fall eine Umkehr der Beweislast in dem Sinne statt, als bei Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten des Empfängers ausfällt, der den Erhalt der Abholungseinladung bestreitet. Diese Vermutung kann durch den Gegenbeweis umgestossen werden. Sie gilt so lange, als der Empfänger nicht den Nachweis einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit von Fehlern bei der Zustellung erbringt. Verlangt wird hierfür, dass konkrete Anzeichen für einen derartigen Fehler vorhanden sind (BGE 142 IV 201 E. 2.3 mit zahlreichen Hinweisen; s.a. BGE 142 III 599 E. 2.4.1; Urteil 6B_1057/2022 vom 30. März 2023 E. 1.1). 
 
4.  
Dass der Beschwerdeführer in einem Verhältnis stand, welches die Zustellung von gerichtlichen Akten wahrscheinlich machte, steht vorliegend nicht im Streit. Streitig ist vielmehr einzig, ob die Einladung zur Abholung des eingeschrieben versandten Urteils des Bezirksgerichts vom 16. Januar 2023 in das Postfach des Beschwerdeführers gelegt wurde und der Zustellversuch korrekt erfolgte. 
Aus dem sich bei den Akten befindlichen "Track & Trace"-Auszug der Schweizerischen Post geht in dieser Hinsicht hervor, dass das fragliche Urteil am 11. Mai 2023 als Einschreiben vom Bezirksgericht in Hochdorf zum Versand aufgegeben, dem Beschwerdeführer am Folgetag ein Abholzettel mit Frist bis am 19. Mai 2023 ins Postfach gelegt und das Einschreiben am 20. Mai 2023 mit dem Vermerk "nicht abgeholt" retourniert wurde. 
Aufgrund des "Track & Trace"-Auszuges besteht somit die Vermutung, dass die Abholeinladung in das Postfach des Beschwerdeführers gelegt und das Zustelldatum korrekt registriert wurde. 
Für die Behauptung des Beschwerdeführers, keine Abholeinladung erhalten zu haben, spricht vorliegend indessen nicht nur, dass er sich nach der am 30. Juni 2023 erfolgten Zustellung der vorinstanzlichen Nichteintretensverfügung umgehend an die Schweizerische Post gewandt und sich über eine fehlerhafte Postzustellung beschwert hat, sondern insbesondere auch, dass die Schweizerische Post in einer Antwort-E-Mail vom 12. Juli 2023 mit dem Betreff "Fehlzustellung Postfach yyy, U.________" zuhanden des Beschwerdeführers ausdrücklich eingeräumt hat, dass "ein Brief von der Zustellerin falsch avisiert" worden sei, weshalb er - der Beschwerdeführer - "keine Möglichkeiten gehabt" habe, "diesen zu holen". Diese Umstände, namentlich aber das explizite Einräumen einer Fehlzustellung im massgeblichen Zeitraum durch die Schweizerische Post selbst, wecken erhebliche Zweifel daran, dass am 12. Mai 2023 eine Abholeinladung in das Postfach des Beschwerdeführers gelegt wurde und der Zustellversuch des eingeschrieben versandten Urteils ordnungsgemäss erfolgte; dies gilt im Übrigen umso mehr, als die Schweizerische Post den Inhalt ihrer Antwort-E-Mail vom 12. Juli 2023 auf Nachfrage des Bundesgerichts am 19. Oktober 2023 in einer ersten Mitteilung abermals grundsätzlich bestätigte. Diese erheblichen Zweifel an einer ordnungsgemässen Zustellung verstärken sich weiter dadurch, dass sich die retournierte Postsendung, d.h. das eingeschrieben versandte Urteil mit Couvert, nicht in den dem Bundesgericht vorliegenden kantonalen Akten befindet; dem "Track & Trace"-Auszug lässt sich, anders als sonst üblich, im Übrigen auch nicht entnehmen, dass die zurückgesandte Postsendung vom Bezirksgericht wieder in Empfang genommen worden wäre. Insgesamt bestehen somit klar ausgewiesene Zweifel an einer ordnungsgemässen Zustellung und damit gleichsam hinreichend konkrete Anhaltspunkte für die Widerlegung der Zugangsvermutung der fraglichen Postsendung, ohne dass diese Anhaltspunkte durch die weiteren Vorbringen in der Beschwerde (zu vergangenen postalischen Falschzustellungen unter namentlicher Nennung von Zeugen) zusätzlich untermauert bzw. durch die zweite Mitteilung der Schweizerischen Post vom 19. Oktober 2023 (wonach "der Brief" laut der Postbotin doch richtig avisiert und ins richtige Fach gelegt worden sein soll) relativiert würden. 
Aus dem Gesagten folgt, dass das begründete Urteil des Bezirksgerichts dem Beschwerdeführer nicht rechtswirksam zugestellt wurde. Die fingierte Zustellung kann ihm demnach entgegen der Vorinstanz nicht entgegengehalten werden. Die Zustellfiktion gelangt nicht zur Anwendung. 
 
5.  
Die Beschwerde ist nach dem Gesagten gutzuheissen und die Sache geht in Aufhebung der angefochtenen Nichteintretensverfügung zu neuer Behandlung an die Vorinstanz zurück. Das begründete Urteil des Bezirksgerichts ist dem Beschwerdeführer neu ordnungsgemäss zuzustellen. 
Die Rückweisung an die Vorinstanz erfolgt prozessualiter. Die Sache wird damit nicht präjudiziert, sodass auf die Einholung von Vernehmlassungen verzichtet werden kann (vgl. Urteil 6B_151/2019 vom 17. April 2019 E. 5). 
Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Eine Parteientschädigung ist nicht zuzusprechen, da dem Beschwerdeführer keine Kosten der Rechtsvertretung erwachsen sind. Besondere Verhältnisse oder Auslagen weist er im Übrigen nicht nach. Eine Entschädigung rechtfertigt sich daher nicht (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 127 V 205 E. 4b; 113 Ib 353 E. 6b). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen, die Verfügung des Kantonsgerichts Luzern vom 21. Juni 2023 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Behandlung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben und keine Entschädigungen ausgerichtet. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Luzern, 2. Abteilung, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 15. November 2023 
 
Im Namen der I. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Die Gerichtsschreiberin: Arquint Hill