Chapeau
149 III 172
21. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A.A. gegen B.A. (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_60/2022 vom 5. Dezember 2022
Regeste
Art. 176 al. 1 ch. 1 et al. 3 en relation avec l'art. 285 al. 2 CC; art. 58 al. 1 et art. 314 al. 2 cum art. 271 let. a CPC; art. 9 Cst.; protection de l'union conjugale; contribution d'entretien du conjoint et principe de disposition en procédure d'appel.
Sur la question de savoir si, en mesures protectrices de l'union conjugale, il est possible sans violation arbitraire du principe de disposition de réduire la contribution d'entretien de l'enfant en procédure d'appel et d'utiliser les moyens ainsi libérés (y compris une part à l'excédent) pour la contribution d'entretien du conjoint, bien que celui-ci n'attaque pas la décision de première instance qui ne lui octroie aucune contribution (consid. 3.4.1).
B.a Am 21. Oktober 2020 reichte B.A. beim Kantonsgericht Zug ein Eheschutzgesuch ein. Sie beantragte im Wesentlichen, die Tochter unter ihre Obhut zu stellen, die eheliche Wohnung ihr zuzuweisen und A.A. zu verpflichten, ihr und der Tochter monatlichen Unterhalt von insgesamt mindestens Fr. 9'821.80 zu bezahlen.
B.b Soweit vor Bundesgericht noch relevant, stellte das Kantonsgericht C.A. unter die Obhut der Mutter und regelte das väterliche Besuchsrecht. Weiter verpflichtete es A.A., ab 14. Oktober 2020 für C.A. einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von Fr. 7'462.- (zzgl. Familienzulage) zu bezahlen. Davon wurden Fr. 2'311.- (zzgl. Familienzulage) als Barunterhalt und Fr. 5'151.- als Betreuungsunterhalt ausgewiesen. Die eheliche Wohnung wurde für die Dauer des Getrenntlebens samt Hausrat Mutter und Tochter zur alleinigen Benützung zugewiesen.
B.c. Auf Berufung von A.A. hin ordnete das Obergericht des Kantons Zug die alternierende Obhut an und regelte die
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Betreuungsanteile. Neu sollte der von A.A. geschuldete Unterhalt für die Zeit vom 14. Oktober 2020 bis zum Auszug von B.A. aus der ehelichen Wohnung, längstens bis zum 30. Juni 2022, aus Barunterhalt von Fr. 2'430.- (zzgl. Familienzulage), Betreuungsunterhalt von Fr. 3'250.- und ehelichem Unterhalt von Fr. 1'830.- bestehen. Für die Zeit danach wurde der Barunterhalt auf Fr. 2'110.- (zzgl. Familienzulage), der Betreuungsunterhalt auf Fr. 2'410.- und der eheliche Unterhalt auf Fr. 2'600.- bestimmt.
C. In seiner Beschwerde an das Bundesgericht wehrt sich A.A. (Beschwerdeführer) dagegen, B.A. (Beschwerdegegnerin) ehelichen Unterhalt bezahlen zu müssen. Weiter verlangt er, den Barunterhalt für C.A. in der zweiten Phase (ab 1. Juli 2022) auf Fr. 1'510.- (zzgl. Familienzulage) festzusetzen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Beschwerdegegnerin beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit auf diese einzutreten ist. Die Vorinstanz verzichtet auf eine Stellungnahme.
(Zusammenfassung)
Aus den Erwägungen:
3.4.1 Was den Vorwurf der willkürlichen Missachtung der Dispositionsmaxime im Streit um den Ehegattenunterhalt betrifft, gilt das Folgende: Der Dispositionsgrundsatz ist Ausdruck der Privatautonomie (Urteile 5A_88/2020 vom 11. Februar 2021 E. 8.3; 5A_249/2018 vom 13. Dezember 2018 E. 4.2). Er besagt, dass das Gericht einer Partei nicht mehr und nichts anderes zusprechen darf, als sie verlangt, und nicht weniger, als die Gegenpartei anerkannt hat (Art. 58 Abs. 1 ZPO). Es sind die Parteien, die mit ihren Rechtsbegehren die Grenzen ziehen, innerhalb deren sich das Gericht mit seiner rechtlichen Beurteilung bewegen darf. Dem Gericht ist es im Anwendungsbereich von Art. 58 Abs. 1 ZPO versagt, den Streitgegenstand eigenmächtig auf nicht geltend gemachte Punkte auszudehnen (BGE 143 III 520 E. 8.1; Urteile 5A_696/2019 vom 19. Juni 2020 E. 3.1.2; 4A_397/2016 vom 30. November 2016 E. 2.1). Im Rechtsmittelverfahren verbietet der Dispositionsgrundsatz der Rechtsmittelinstanz, über die Rechtsmittelanträge des Rechtsmittelklägers hinauszugehen und das erstinstanzliche Urteil zu dessen Ungunsten abzuändern, es sei denn, die Gegenpartei habe ein (Anschluss-)Rechtsmittel ergriffen (Verschlechterungsverbot; BGE 134 III 151 E. 3.2; BGE 110 II 113 E. 3a). Das
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Verschlechterungsverbot ist ein klarer und unumstrittener Rechtsgrundsatz, dessen Missachtung das Willkürverbot (Art. 9 BV) verletzt (BGE 129 III 417 E. 2.1.1).Der Beschwerdeführer hat Recht, wenn er feststellt, dass der angefochtene Entscheid von diesen Verfahrensgrundsätzen abrückt. Auch im Eheschutzverfahren verfügen Ehegatten und minderjährige Kinder über selbständige Unterhaltsansprüche mit je eigenem rechtlichen Schicksal. Die Regelung über das Getrenntleben unterscheidet ausdrücklich zwischen dem andern Ehegatten (Art. 176 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB) und den Kindern (Art. 176 Abs. 3 i.V.m. Art. 276 Abs. 2 ZGB) geschuldeten Geldbeiträgen. Der Anspruch auf Kindesunterhalt wird vom Offizialgrundsatz beherrscht (Art. 296 Abs. 3 ZPO). Der Unterhaltsanspruch des Ehegatten unterliegt hingegen dem Dispositionsgrundsatz (Art. 58 Abs. 1 ZPO), zumal das Gesetz keine Vorschrift enthält, wonach das Gericht diesbezüglich nicht an die Parteianträge gebunden ist (Art. 58 Abs. 2 ZPO). Allein von daher ist das Eheschutzgericht somit nicht befugt, einem Ehegatten von Amtes wegen mehr Unterhalt zuzusprechen, als er verlangt hat. Es darf selbst dann nicht von Amtes wegen über die Begehren um Ehegattenunterhalt hinausgehen, wenn dem unterhaltspflichtigen Ehegatten nach Abzug seiner Leistungen an die Kinder noch verfügbare Mittel bleiben, die an sich mit dem anderen Ehegatten zu teilen wären. Daran ändert der im Eheschutzverfahren geltende Untersuchungsgrundsatz (Art. 272 ZPO) nichts. Denn er beschlägt die Feststellung des Sachverhaltes und nicht die Bindung an die Parteianträge. Die Vorschrift in Art. 282 Abs. 2 ZPO schliesslich, wonach die Rechtsmittelinstanz, vor welcher der Unterhaltsbeitrag für den Ehegatten angefochten wird, auch die nicht angefochtenen Unterhaltsbeiträge für die Kinder neu beurteilen kann, ist eine Ausnahme allein zugunsten des Kindesunterhalts, gestattet hingegen keine Neubeurteilung des Ehegattenunterhalts von Amtes wegen, wenn der Kindesunterhalt angefochten wird (Urteile 5A_204/2018 vom 15. Juni 2018 E. 4.1; 5A_970/2017 vom 7. Juni 2018 E. 3.1; 5A_704/2013 vom 15. Mai 2014 E. 3.4, nicht publ. in: BGE 140 III 231; 5A_906/2012 vom 18. April 2013 E. 6, in: FamPra.ch 2013 S. 715 ff.). Um sich gegen die Konsequenzen des Dispositionsgrundsatzes zu wappnen, hat der Ehegatte, der sowohl für ein Kind als auch für sich selbst Unterhalt erstreiten will, Eventualbegehren für den Fall zu stellen, dass er mit seinen Hauptanträgen nicht obsiegt (BGE 140 III 231 E. 3.5, bestätigt in den Urteilen 5A_582/2020 vom 7. Oktober 2021 E. 6.2.3; 5A_277/2019
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vom 25. September 2019 E. 3.1; 5A_245/2019 vom 1. Juli 2019 E. 3.1.1; 5A_204/2018 vom 15. Juni 2018 E. 4.1). Das gilt namentlich dort, wo aufgrund der gegebenen Streitlage ausreichend Anlass zu solchen Eventualbegehren besteht (BGE 140 III 231 E. 3.5).Allein mit der Obliegenheit der Ehegatten, sich mit Eventualanträgen gegen die besagten Unwägbarkeiten des erstinstanzlichen Unterhaltsprozesses abzusichern, ist freilich nichts über die hier gegebene Situation eines Eheschutzprozesses gesagt, in welchem die Berufungsinstanz den Betreuungsunterhalt für das Kind reduziert und die dadurch frei werdenden Mittel neu für den Ehegattenunterhalt verwendet, obwohl die unterhaltsberechtigte Ehefrau den erstinstanzlichen Entscheid nicht anfocht. Erst neulich erachtete das Bundesgericht in einer ähnlichen Situation die Auffassung der kantonalen Instanz, dass die Höhe des Ehegattenunterhalts mangels entsprechender Berufungsbegehren durch den erstinstanzlich zugesprochenen Betrag begrenzt sei, als offensichtlich unhaltbar. Es erinnerte daran, dass eine Anschlussberufung im Eheschutzverfahren ausgeschlossen ist (Art. 314 Abs. 2 i.V.m. Art. 271 lit. a ZPO). Weiter wies es darauf hin, dass die Ehefrau, soweit die erste Instanz ihren Anträgen entsprach, kein schutzwürdiges Interesse an einer selbständigen Berufung gehabt hätte, um sich präventiv gegen eine Reduktion oder Aufhebung des Betreuungsunterhalts im Berufungsverfahren zu wehren (Urteil 5A_776/2021 / 5A_777/2021 vom 21. Juni 2022 E. 6.3.2). In einer anderen, vom Bundesgericht kürzlich beurteilten Beschwerde rügte die Ehefrau eine Verletzung des Dispositionsgrundsatzes mit der Begründung, die Berufungsinstanz habe ihr weniger Ehegattenunterhalt zugesprochen als vom Ehemann zugestanden. Das Bundesgericht verwies auf die Interdependenz zwischen dem Ehegatten- und dem Kindesunterhalt, die sich aus der Anwendung der zweistufigen Berechnungsmethode mit Überschussverteilung ergebe. In der Folge könnten auf der Ebene der Sachverhaltsermittlung die für den Kindesunterhalt gewonnen Erkenntnisse im Streit um den ehelichen Unterhalt nicht ausgeblendet werden. Gleiches müsse sinngemäss für die rechtliche Operation der Unterhaltsfestsetzung gelten. Dem unterhaltspflichtigen Elternteil sei es objektiv nicht möglich, für den Fall, dass das Gericht in Anwendung des Offizial- und Untersuchungsgrundsatzes höheren Kindesunterhalt zuspricht, ein entsprechend tiefer beziffertes Eventualbegehren für den Ehegattenunterhalt zu stellen, da er die Höhe des Kindesunterhalts nicht vorhersehen könne. Gestützt auf diese Erwägungen und mit Rücksicht darauf, dass
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die Berufungsinstanz den Ehemann im Gesamtbetrag zu deutlich mehr Unterhaltsbeiträgen verpflichtete, als dieser berufungsweise insgesamt konzediert hatte, verneinte das Bundesgericht eine willkürliche Verletzung von Art. 58 Abs. 1 ZPO (Urteil 5A_112/2020 vom 28. März 2022 E. 2.2 und 2.3).Angesichts dieser jüngsten Rechtsprechung ist auch der heute angefochtene Entscheid unter Willkürgesichtspunkten nicht zu beanstanden. Soweit der Beschwerdeführer seinen Willkürvorwurf mit der vom Obergericht vorgenommenen Verschiebung von Mitteln aus dem Betreuungs- in den Ehegattenunterhalt begründet, ist die bundesgerichtliche Rechtsprechung, die er in diesem Zusammenhang anruft, bezogen auf die hier gegebene Situation nicht einschlägig. So bekräftigt BGE 129 III 417 zwar, dass Ehegatte und Kind über selbständige Unterhaltsansprüche mit eigenem rechtlichen Schicksal verfügen und die Interdependenz der Renten keine Abweichung vom Dispositionsgrundsatz rechtfertigt, dem der Streit um den Ehegattenunterhalt unterliegt (BGE 129 III 417 E. 2.1.1 und 2.1.2). Dieser Entscheid aus dem Jahr 2003 erging allerdings vor der Einführung des Betreuungsunterhalts (Art. 285 Abs. 2 ZGB) am 1. Januar 2017 (AS 2015 4299), mithin ohne Rücksicht auf die Komplizierung der Unterhaltsberechnung, die sich daraus ergibt, dass der Betreuungsunterhalt zwar als Anspruch des Kindes ausgestaltet, wirtschaftlich jedoch dem betreuenden Elternteil zugedacht ist (BGE 145 III 393 E. 2.7.3; BGE 144 III 481 E. 4.3). Auch die Schweizerische Zivilprozessordnung und damit der Ausschluss der Anschlussberufung im Eheschutzverfahren trat erst später, am 1. Januar 2011, in Kraft (AS 2010 1739). Im besagten Fall aus dem Jahr 2003 hatte die Ehefrau in ihrer Anschlussbeschwerde zudem ausdrücklich beantragt, die erstinstanzlich gesprochenen Frauenalimente zu bestätigen (BGE 129 III 417 Sachverhalt Bst. B). Die in den Urteilen 5A_169/2012 vom 18. Juli 2012 und 5A_441/2008 / 5A_446/2008 vom 29. Dezember 2008 beurteilten Fälle stammen ebenfalls aus der Zeit vor der Einführung des Betreuungsunterhalts und unterstanden dem kantonalen Zivilprozessrecht; zudem betrafen sie nicht Eheschutz-, sondern Scheidungsverfahren. Das Urteil 5A_970/2017 vom 7. Juni 2018 betreffend eine Eheschutzsache bejahte eine willkürliche Anwendung von Art. 58 Abs. 1 ZPO; anders als hier hatte in jenem Fall auch die Ehefrau selbständig Berufung erhoben und von der Berufungsinstanz mehr Ehegattenunterhalt zugesprochen erhalten, als sie selbst (berufungsweise) verlangt hatte.
BGE 149 III 172 S. 178
Im Rahmen der Begründung seiner Willkürrüge beklagt sich der Beschwerdeführer schliesslich darüber, dass das Obergericht mit seiner wirtschaftlichen Betrachtungsweise die unterschiedlichen Voraussetzungen ausblende, denen diese beiden Unterhaltskategorien unterstehen. Er insistiert, dass sich der Ehegattenunterhalt an einem bestimmten Lebensstandard orientiere und auch aus einem Überschuss resultieren könne, während der Betreuungsunterhalt eine Einbusse der Eigenversorgungskapazität des betreuenden Elternteils ausgleichen solle. Mögen all diese Beobachtungen auch zutreffen (vgl. BGE 144 III 481 E. 4.8.3 mit Hinweisen), so bleibt vor Bundesgericht doch unbestritten, dass die Beschwerdegegnerin selbst unter Berücksichtigung des Überschussanteils, um den die Vorinstanz den Ehegattenunterhalt für die Zeit ab Auflösung der ehelichen Wohnung ergänzt, im Gesamtbetrag (Betreuungs- plus Ehegattenunterhalt) nicht besser gestellt ist als im erstinstanzlichen Entscheid. Weshalb eine derartige Gesamtbetrachtung, wie sie schon bei der oberinstanzlichen Reduktion des Ehegattenunterhalts zugunsten des Kindesunterhalts den Ausschlag gab (Urteil 5A_112/2020 vom 28. März 2022 E. 2.3), bei der heute zu beurteilenden umgekehrten Ausgangslage einer willkürfreien Handhabung des Dispositionsgrundsatzes (Art. 58 Abs. 1 ZPO) im Wege stehen soll, ist nicht ersichtlich. Ob sich derselbe Schluss aufdrängen würde, wenn der unterhaltsberechtigte Ehegatte infolge der Überschussverteilung gegenüber dem erstinstanzlichen Entscheid insgesamt besser gestellt wird, ist eine andere Frage, die heute nicht zur Beurteilung steht. Im Übrigen ist mit dem Beschwerdeführer darauf hinzuweisen, dass im Zuge der geplanten Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung die Absicht besteht, in familienrechtlichen Summarverfahren die Anschlussberufung zuzulassen und Art. 314 Abs. 2 ZPO entsprechend zu ergänzen (s. Botschaft vom 26. Februar 2020 zur Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung [Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung], BBl 2020 2697, 2771 f.).