Chapeau
148 I 19
2. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Regierungsrat des Kantons Uri (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_290/2021 vom 3. September 2021
Regeste
Art. 22, art. 34, art. 36 al. 1 et 3, art. 49 Cst.; art. 40 LEp; art. 8 ordonnance COVID-19 situation particulière; règlement Covid-19 du canton d'Uri du 26 mars 2021; limitation du nombre de participants aux manifestations politiques et de la société civile à 300 personnes; base légale; proportionnalité; liberté de vote.
Base légale (consid. 4). Portée de la liberté de réunion (consid. 5.1 et 5.2). La limitation du nombre de participants aux manifestations politiques et de la société civile à 300 personnes représente une atteinte à la liberté de réunion (consid. 5.3). Intérêt public (consid. 5.4). Notion et signification du principe de la proportionnalité (consid. 5.5). Examen de la proportionnalité de la mesure (consid. 6). La limitation des contacts humains est apte à réduire la transmission des virus. La limitation prévue du nombre des participants apparaît nécessaire à la réduction du risque de propagation du virus. Elle tient compte à la fois de l'intérêt public à la protection de la santé et de l'importance particulière de la liberté de réunion dans un Etat de droit démocratique et s'avère proportionnée (consid. 6.3-6.6).
A. Der Bundesrat erliess am 19. Juni 2020 die Verordnung über Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie (Covid-19-Verordnung besondere Lage; AS 2020 2213; inzwischen ersetzt durch die Covid-19-Verordnung besondere Lage vom 23. Juni 2021 [SR 818.101.26]; im Folgenden wird die alte Verordnung zitiert). Ihr Art. 6 enthält Bestimmungen für Veranstaltungen. Die Verordnung wurde in der Folge mehrfach geändert. Nach der am 26. März 2021 in Kraft stehenden Fassung von Art. 6 Abs. 1 ist die Durchführung von Veranstaltungen verboten. Vom Verbot ausgenommen sind unter anderem Veranstaltungen nach Artikel 6c (lit. a) sowie Veranstaltungen zur politischen Meinungsbildung mit bis zu 50 Personen (lit. b). Art. 6c Abs. 2 lautet wie folgt:
BGE 148 I 19 S. 21
Für politische und zivilgesellschaftliche Kundgebungen und für Unterschriftensammlungen sind die Artikel 4-6 nicht anwendbar. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer müssen eine Gesichtsmaske tragen; es gelten jedoch die Ausnahmen nach Artikel 3b Absatz 2 Buchstaben a und b.
B. Am 26. März 2021 erliess der Regierungsrat des Kantons Uri das vorliegend massgebende totalrevidierte Reglement zur Bekämpfung der Verbreitung des Coronavirus (Kantonales Covid-19-Reglement; Amtsblatt des Kantons Uri vom 1. April 2021, S. 536). Dessen Art. 2 lautet:
Artikel 2 Besondere Bestimmungen für politische und zivilgesellschaftliche Kundgebungen
In Abweichung von Artikel 6c Absatz 2 der Covid-19-Verordnung besondere Lage sind politische und zivilgesellschaftliche Kundgebungen von mehr als 300 Personen verboten.
Das Reglement trat am 1. April 2021 in Kraft und war ursprünglich bis zum 30. April 2021 befristet. Mit Regierungsratsbeschluss vom 27. April 2021 wurde die Geltungsdauer bis 30. Mai 2021, und mit Regierungsratsbeschluss vom 25. Mai 2021 bis zum 2. Juli 2021 verlängert. Anschliessend wurde das Reglement erneut totalrevidiert. Die neue Fassung vom 9. August 2021 (RB 30.2217) ist am 16. August 2021 in Kraft getreten und enthält keine Bestimmungen für politische und zivilgesellschaftliche Kundgebungen mehr.
C. Am 6. April 2021 erhob A. Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht mit dem Antrag, Art. 2 des kantonalen Covid-19-Reglements sei aufzuheben; eventualiter sei festzustellen, dass diese Bestimmung bundesrechtswidrig sei und ihr Erlass und Inkraftsetzung widerrechtlich erfolgt sei. Zudem beantragte sie die Erteilung der aufschiebenden Wirkung.
Der Regierungsrat des Kantons Uri beantragt die Abweisung der Beschwerde. Die Beschwerdeführerin hält replikweise an ihren Anträgen fest.
Mit Verfügung des Präsidenten der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 29. April 2021 wurde das Gesuch um aufschiebende Wirkung abgewiesen.
Die II. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts hat den Fall am 3. September 2021 öffentlich beraten und entschieden.
Aus den Erwägungen:
4.1 Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des Vorrangs des Bundesrechts (Art. 49 Abs. 1 BV): In der besonderen Lage sei der Bundesrat abschliessend für die Anordnung von Massnahmen zuständig. Kantonale Zuständigkeiten bestünden nur, soweit das Bundesrecht solche vorsehe. Zwar könnten die Kantone gemäss Art. 8 Abs. 1 Covid-19-Verordnung besondere Lage weitere gesundheitliche Restriktionen erlassen, sie müssten jedoch nach Art. 8 Abs. 2 die Ausübung der politischen Rechte und der Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährleisten. Auch Art. 6c Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage bringe zum Ausdruck, dass gewisse bundesrätliche Einschränkungen auf politische und zivilgesellschaftlichen Kundgebungen nicht anwendbar seien. Mit diesen Wertungen sei es nicht vereinbar, auf kantonaler Ebene eine starre Obergrenze von 300 Teilnehmern festzulegen, während in anderen Kantonen deutlich grössere Kundgebungen bewilligt würden.
4.2 Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Bundesrechts (Art. 49 Abs. 1 BV) können die Kantone in Sachgebieten, welche die Bundesgesetzgebung abschliessend geregelt hat, keine Rechtsetzungskompetenzen mehr wahrnehmen, soweit sie nicht in der einschlägigen Bundesgesetzgebung ausdrücklich vorgesehen sind. Auch wenn sich eine Bundesregelung in einem bestimmten Sachbereich an sich als abschliessend darstellt, ist eine kantonale Lösung nicht ausgeschlossen, falls sie ein anderes Ziel verfolgt als dasjenige des Bundesrechts. Die Kantone dürfen jedoch im Rahmen der ihnen zukommenden Kompetenzen nur solche Vorschriften erlassen, die nicht gegen den Sinn und Geist des Bundesrechts verstossen und dessen Zweck nicht beeinträchtigen oder vereiteln (BGE 145 IV 10 E. 2.1; BGE 142 II 369 E. 5.2).
4.3 Art. 118 Abs. 2 lit. b BV überträgt dem Bund eine umfassende, nachträglich derogatorische Zuständigkeit für die Bekämpfung übertragbarer, stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten von Menschen und Tieren (BGE 139 I 242 E. 3.1; BGE 133 I 110 E. 4.2). Unter anderem gestützt auf diese Bestimmung erliess der Bundesgesetzgeber das Bundesgesetz vom 28. September 2012 über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG; SR 818.101). Das 5. Kapitel des Gesetzes ("Bekämpfung") sieht Art. 6 oder 7 EpG erlassenen Massnahmen (Art. 102 Abs. 2 der Verordnung vom 29. April 2015 über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen [Epidemienverordnung, EpV; SR 818.101.1]). Aus dieser gesetzlichen Regelung ergibt sich, dass grundsätzlich sowohl die Kantone als auch (in der besonderen und ausserordentlichen Lage) der Bundesrat Massnahmen zur Bekämpfung ansteckender Krankheiten anordnen können.
BGE 148 I 19 S. 23
in seinem ersten (Art. 30-39) und zweiten Abschnitt (Art. 40) Massnahmen vor, welche die zuständigen kantonalen Behörden anordnen können. In der besonderen Lage kann der Bundesrat nach Anhörung der Kantone bestimmte Massnahmen anordnen (Art. 6 Abs. 2 EpG). In der ausserordentlichen Lage kann der Bundesrat für das ganze Land oder für einzelne Landesteile die notwendigen Massnahmen anordnen (Art. 7 EpG). Der Vollzug des Gesetzes obliegt den Kantonen, soweit nicht der Bund zuständig ist (Art. 75 EpG), auch für die vom Bundesrat nach
4.4 Das hier angefochtene Reglement stützt sich gemäss seinem Ingress unter anderem auf Art. 40 Abs. 1 und 2 EpG .
Art. 40 EpG lautet:
1 Die zuständigen kantonalen Behörden ordnen Massnahmen an, um die Verbreitung übertragbarer Krankheiten in der Bevölkerung oder in bestimmten Personengruppen zu verhindern. Sie koordinieren ihre Massnahmen untereinander.
2 Sie können insbesondere folgende Massnahmen treffen:
a. Veranstaltungen verbieten oder einschränken;
b. Schulen, andere öffentliche Institutionen und private Unternehmen schliessen oder Vorschriften zum Betrieb verfügen;
c. das Betreten und Verlassen bestimmter Gebäude und Gebiete sowie bestimmte Aktivitäten an definierten Orten verbieten oder einschränken.
3 Die Massnahmen dürfen nur so lange dauern, wie es notwendig ist, um die Verbreitung einer übertragbaren Krankheit zu verhindern. Sie sind regelmässig zu überprüfen.
Die Kantone sind also gemäss Art. 40 EpG ausdrücklich zuständig, um Massnahmen zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten anzuordnen, namentlich auch Verbote oder Einschränkungen von Veranstaltungen (Abs. 2 lit. a; vgl. BGE 147 I 450 E. 3.2.2). Wie das Bundesgericht im BGE 147 I 478 E. 3.6-3.8, entschieden hat, ist Art. 40 Abs. 2 EpG eine hinreichende formellgesetzliche Grundlage für kantonale Verbote oder Einschränkungen von Veranstaltungen.
BGE 148 I 19 S. 24
4.5 Die hier formell angefochtene Reglementsbestimmung datiert vom 26. März 2021. Die eidgenössische Covid-19-Verordnung besondere Lage enthielt zu jenem Zeitpunkt unter anderem in Art. 6 besondere Bestimmungen für Veranstaltungen. Nach Abs. 1 ist die Durchführung von Veranstaltungen verboten. Vom Verbot ausgenommen sind unter anderem Veranstaltungen nach Artikel 6c (lit. a), Veranstaltungen zur politischen Meinungsbildung mit bis zu 50 Personen (lit. b) und Veranstaltungen im Familien- und Freundeskreis nach Absatz 2 (lit. h). Nach diesem Abs. 2 dürfen an Veranstaltungen im Familien- und Freundeskreis (private Veranstaltungen) in Innenbereichen höchstens 5 und in Aussenbereichen höchstens 15 Personen teilnehmen. Diese Einschränkungen sind jedoch gemäss Art. 6c Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage nicht anwendbar für politische und zivilgesellschaftliche Kundgebungen. Solche werden durch die bundesrätliche Verordnung - bis auf die Pflicht zum Tragen einer Gesichtsmaske - nicht eingeschränkt und namentlich nicht einer Maximalzahl unterworfen. Es liegt auf der Hand, dass die hier angefochtene Bestimmung davon abweicht, indem sie die Teilnehmerzahl auf 300 begrenzt. Es ist zu prüfen, ob diese Abweichung zulässig ist.
4.6 Art. 8 der Covid-19-Verordnung besondere Lage (in der am 26. März 2021 in Kraft stehenden Fassung vom 4. Dezember 2020; AS 2020 5189) lautet wie folgt:
Art. 8 Zusätzliche Massnahmen der Kantone
1 Der Kanton trifft zusätzliche Massnahmen nach Artikel 40 EpG, wenn:
a. die epidemiologische Lage im Kanton oder in einer Region dies erfordert; er beurteilt die Lage namentlich aufgrund folgender Indikatoren und ihrer Entwicklung:
1. Inzidenz (7-Tage, 14-Tage),
2. Anzahl Neuinfektionen (pro Tag, pro Woche),
3. Anteil positiver Tests an der Gesamtzahl durchgeführter Tests (Positivitätsrate),
4. Anzahl durchgeführter Tests (pro Tag, pro Woche),
5. Reproduktionszahl,
6. Kapazitäten im stationären Bereich sowie Anzahl neu hospitalisierter Personen (pro Tag, pro Woche), einschliesslich solcher in der Intensivpflege;
b. er aufgrund der epidemiologischen Lage nicht mehr die notwendigen Kapazitäten für die erforderliche Identifizierung und Benachrichtigung
BGE 148 I 19 S. 25
ansteckungsverdächtiger Personen nach Artikel 33 EpG bereitstellen kann.
2 Er gewährleistet dabei namentlich die Ausübung der politischen Rechte sowie der Glaubens- und Gewissensfreiheit.
3 Er hört vorgängig das BAG an und informiert dieses über die getroffenen Massnahmen.
Aus Art. 8 der Verordnung ergibt sich somit ausdrücklich, dass der Kanton unter den darin genannten Voraussetzungen auch zusätzliche Massnahmen treffen kann, also Massnahmen, die über das hinausgehen, was der Bundesrat in den vorangehenden Bestimmungen der Verordnung angeordnet hat. Der Kanton kann namentlich auch Einschränkungen für Veranstaltungen vorsehen, welche über die bundesrechtlichen Einschränkungen hinausgehen (BGE 147 I 450 E. 3.2.2). Die bundesrätliche Verordnung lässt damit zu, dass in einzelnen Kantonen verschärfte Massnahmen gelten können. Der blosse Umstand, dass der Kanton Uri einschneidendere Einschränkungen vorsieht als der Bundesrat oder als andere Kantone, ist für sich allein noch kein Grund, die angefochtene Regelung als bundesrechtswidrig zu bezeichnen.
4.7 Voraussetzung für derartige Massnahmen ist gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. a Covid-19-Verordnung besondere Lage, dass die epidemiologische Lage im Kanton oder in der Region "dies erfordert". Dies fällt zusammen mit dem Kriterium der Erforderlichkeit als Teilgehalt der Verhältnismässigkeit als Voraussetzung für eine Grundrechtseinschränkung und ist in diesem Zusammenhang zu prüfen (vgl. E. 6.3.4 und 6.3.5 hiernach). Die in Art. 8 Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage enthaltene weitere Anforderung, dass der Kanton dabei (d.h. beim Treffen zusätzlicher Massnahmen) namentlich die Ausübung der politischen Rechte sowie der Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährleistet, ist im Zusammenhang mit der Rüge der Verletzung der politischen Rechte zu prüfen (vgl. nicht publ. E. 7).
5.1 Die Versammlungsfreiheit wird durch Art. 22 BV sowie Art. 11 EMRK und Art. 21 UNO-Pakt II (SR 0.103.2) gewährleistet. Massgebend ist dabei vorab Art. 22 BV bzw. die dazugehörige Rechtsprechung, da die Garantien gemäss Art. 11 EMRK und Art. 21 UNO-Pakt II hinsichtlich Inhalt und Umfang des Schutzes nicht über
BGE 148 I 19 S. 26
die Gewährleistung der Bundesverfassung hinausgehen (BGE 147 I 161 E. 4.2). Dies gilt auch in Bezug auf Kundgebungen auf öffentlichem Grund (BGE 132 I 256 E. 3 i.f.; BGE 127 I 164 E. 3d i.f.). Nach Art. 22 Abs. 2 BV hat jede Person das Recht, Versammlungen zu organisieren, daran teilzunehmen oder davon fernzubleiben. Zu den Versammlungen gehören unterschiedliche Arten des Zusammenfindens von Menschen im Rahmen einer gewissen Organisation zu einem weit verstandenen gegenseitig meinungsbildenden oder meinungsäussernden Zweck (BGE 147 I 161 E. 4.2; BGE 144 I 281 E. 5.3.1; BGE 143 I 147 E. 3.1; BGE 137 I 31 E. 6.1). Die Versammlungsfreiheit bildet eine zentrale Voraussetzung für die freie demokratische Willensbildung und die Ausübung der politischen Rechte und ist ein unentbehrlicher Bestandteil jeder demokratischen Verfassungsordnung (vgl. GIOVANNI BIAGGINI, BV Kommentar, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl. 2017, N. 7 zu Art. 22 BV).
5.2 Kundgebungen bzw. Demonstrationen zeichnen sich gegenüber anderen Versammlungen insbesondere durch ihre spezifische Appellfunktion aus, d.h. durch das Ziel, die Öffentlichkeit auf ein Anliegen der Teilnehmer aufmerksam zu machen (vgl. MÜLLER/ SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 581; GIORGIO MALINVERNI, in: Commentaire romand, Constitution fédérale, 2021, N. 24 zu Art. 22 BV; CHRISTOPH ERRASS, in: Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, N. 15 zu Art. 22 BV; HANGARTNER/KLEY-STRULLER, Demonstrationsfreiheit und Rechte Dritter, ZBl 96/1995 S. 101 ff.; vgl. auch BGE 100 Ia 392 E. 4c). Die Besonderheit politischer Kundgebungen besteht unter anderem darin, dass sie zur demokratischen Meinungsbildung beitragen, indem auch Anliegen und Auffassungen in der Öffentlichkeit zum Ausdruck gebracht werden können, die innerhalb der bestehenden demokratischen Verfahren oder Einrichtungen weniger zum Ausdruck kommen (vgl. BGE 127 I 164 E. 3c/d; BGE 107 Ia 64 E. 3b; BGE 100 Ia 392 E. 4c und 5; Urteil 1C_35/2015 vom 28. Oktober 2015 E. 4.3, in: ZBl 117/2016 S. 253 ff.). Das Bundesgericht hat seit jeher im Zusammenhang mit Demonstrationen auf den hohen Stellenwert hingewiesen, welcher der Versammlungsfreiheit aufgrund deren zentralen Bedeutung für die Meinungsbildung in einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat, besonders auch in politisch unruhigen Zeiten, zukommt (vgl. Urteil 1C_35/2015 vom 28. Oktober 2015 E. 4.3, in: ZBl 117/2016 S. 253 ff., mit zahlreichen Hinweisen).
BGE 148 I 19 S. 27
5.3 Das angefochtene Reglement stellt eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit dar. Grundrechtseinschränkungen sind zulässig, wenn sie eine hinreichende gesetzliche Grundlage haben, durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sind, verhältnismässig sind und den Kerngehalt nicht antasten (Art. 36 BV).
Die Beschwerdeführerin anerkennt ausdrücklich das Vorliegen einer gesetzlichen Grundlage (vgl. auch E. 4.4 hiervor) und die Respektierung des Kerngehalts, stellt jedoch die Voraussetzungen des öffentlichen Interesses und der Verhältnismässigkeit in Frage.
5.4 Die angefochtene Verordnung bezweckt, die Covid-19-Epidemie zu bekämpfen, indem die Ausbreitung des die Epidemie verursachenden Virus begrenzt werden soll. Es kann nicht ernsthaft bestritten werden, dass dieser Zweck grundsätzlich im öffentlichen Interesse liegt ( Art. 2 und 19 EpG ; BGE 147 I 450 E. 3.3.1).
5.5
[Zusammenfassung E. 5.5-5.5.5: Grundsatz der Verhältnismässigkeit: Elemente, Beurteilungskriterien, Umfang der Prüfung durch das Bundesgericht (vgl. BGE 147 I 450 E. 3.2.3-3.2.8)]
6. Nachfolgend ist die Verhältnismässigkeit des angefochtenen Reglements anhand der erwähnten Kriterien zu prüfen. Dabei ist insbesondere eine Abwägung zwischen dem unbestrittenen öffentlichen Interesse am Gesundheitsschutz und den weiteren involvierten öffentlichen und privaten Interessen vorzunehmen.
6.1 Die Beschwerdeführerin rügt, es fehle ein Beweis dafür, dass die bislang in anderen Kantonen durchgeführten Demonstrationen unter freiem Himmel je zu erhöhten Ansteckungen, zu einer Belastung des Gesundheitswesens bzw. zu Todesfällen geführt hätten. Die angefochtene Massnahme sei zur Bekämpfung von Covid-19 weder erforderlich noch geeignet. Sie widerspreche der bundesrechtlichen Wertung, wonach die Ausübung der politischen Rechte zu wahren sei (Art. 8 Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage), und es fehle an der Verhältnismässigkeit im engeren Sinne, da mildere Mittel zur Verfügung stünden wie namentlich eine höhere Maximalzahl oder genauere Anforderungen an Schutzkonzepte.
6.2.1 Der Regierungsrat beruft sich in der Vernehmlassung auf eine Studie von JAN M. BRAUNER UND ANDERE (Inferring the effectiveness of government interventions against COVID-19, Science 371, 9338
BGE 148 I 19 S. 28
[19.2.2021]), in welcher anhand einer Länderstudie in 41 (meist europäischen) Ländern die Wirksamkeit von sieben Massnahmen zur Bekämpfung der Corona-Epidemie zwischen Januar und Mai 2020 untersucht wurden. Daraus ergab sich, dass die Einschränkung von Menschenansammlungen zu einer erheblichen Reduktion des Reproduktionsfaktors führte, nämlich mit einer Begrenzung der Teilnehmerzahl auf 10 oder weniger im Median um ca. 40 %, bei weniger als 100 Teilnehmern um ca. 35 % und bei 1000 oder weniger Teilnehmern um ca. 20 %. Im Vergleich dazu führte die Schliessung von Schulen und Universitäten zu einer Reduktion um ca. 36 %, die Schliessung der meisten "nonessential businesses" um ca. 26 % und die Schliessung von "some businesses" um ca. 17,5 %.Die Beschwerdeführerin setzt sich in der Replik mit dieser Studie nicht auseinander. Auch andere Untersuchungen kommen zum Ergebnis, dass die Einschränkungen von Versammlungen zu den wirksamsten Massnahmen zur Eindämmung von Covid-19 zählen, und zwar umso wirksamer, je tiefer die Anzahl der Teilnehmer ist (vgl. DANIEL KETTIGER, Die Einschränkung von Demonstrationen vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse, Jusletter Coronavirus-Blog Ziff. 2.1, www.jusletter.weblaw.ch/bog/klettiger31032021.html). Auch wenn die Ansteckungsgefahr im Freien sehr wahrscheinlich geringer ist als in Innenräumen, kann angesichts dieser Untersuchungen doch auch bei Veranstaltungen im Freien eine relevante Ansteckungsgefahr nicht verneint werden.
6.2.2 Angesichts des Umstandes, dass die Übertragung von SARS-CoV-2 allgemeinnotorisch weitgehend von Mensch zu Mensch erfolgt und mit Blick auf den Stand der Forschung, ist eine Einschränkung von zwischenmenschlichen Kontakten geeignet, die Übertragung von Viren und damit auch die durch Virenübertragung verursachten Infektionen und Krankheiten zu reduzieren. Verbote oder Einschränkungen von Veranstaltungen schränken die zwischenmenschlichen Kontakte ein und sind daher ein grundsätzlich taugliches Mittel, um die Verbreitung einer Krankheit zu reduzieren.
6.3 Als nächstes ist zu prüfen, ob die hier angefochtene Einschränkung der Teilnehmerzahl an politischen Kundgebungen erforderlich ist.
6.3.1 Der Regierungsrat führt in seiner Vernehmlassung aus, im Kanton Uri seien die Fallzahlen ab Mitte März 2021 stark angestiegen; die 14-Tagesinzidenz pro 100'000 Einwohner sei Anfang
BGE 148 I 19 S. 29
März bei 100 gelegen, bis am 22. März auf 324 (bei einem schweizerischen Durchschnitt von 220) und am 13. April 2021 auf 931.8 (bei einem schweizerischen Durchschnitt von 297) angestiegen. Die Intensivpflegestation des Kantonsspitals Uri mit ihren maximal sechs Beatmungsplätzen sei in den letzten Wochen vorwiegend mit Covid-19-Patienten belegt gewesen und die eigens dafür geschaffene Covid-Station des Spitals sei voll belegt gewesen. Medizinisch nicht zwingende Eingriffe seien verschoben worden. Die Beschränkung der Teilnehmerzahl an Kundgebungen sei eine wirksame Massnahme, um die weitere Verbreitung des Coronavirus zu verhüten, da es an solchen Veranstaltungen zu einer erheblichen Infektionsgefahr für Teilnehmer, Polizeibeamte und Dritte komme.Einen direkten Beweis, dass die im angefochtenen Reglement enthaltene Einschränkung von Kundgebungen noch höhere Zahlen verhindert hätte, kann der Regierungsrat zwar nicht erbringen. Ein solcher Nachweis kann der Natur der Sache nach allerdings kaum je geführt und deshalb auch nicht als Voraussetzung für solche Massnahmen verlangt werden; es genügt dafür eine erhebliche Plausibilität, dass solche Massnahmen wirksam sind (vgl. nicht publ. E. 5.5.3).
6.3.2 Die Beschwerdeführerin bestreitet die vom Regierungsrat angeführten Zahlen als solche nicht, wirft allerdings in der Replik die Frage auf, ob nicht einfach die gute Teststrategie im Kanton Uri für die hohen Fallzahlen verantwortlich sei.
Dass eine gute Teststrategie derart hohe Unterschiede in den Fallzahlen erklärt, ist eher unwahrscheinlich. Auch wenn die Infektions-Fallzahlen für sich allein nicht ausschlaggebend sind für die Beurteilung der epidemiologischen Situation, so können sie doch dafür ein Indikator sein (vgl. BGE 147 I 450 E. 3.3.4).
6.3.3 Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass der Regierungsrat des Kantons Uri aufgrund der epidemiologischen Lage befugt war, Massnahmen zu treffen, die über die bundesrechtlich vorgeschriebenen hinaus gehen (vgl. Art. 8 Abs. 1 lit. a Covid-19-Verordnung besondere Lage sowie E. 4.6 und 4.7 hiervor).
6.3.4 Als milderes Mittel käme zunächst eine höhere Teilnehmerzahl als 300 in Frage. Es ist indes davon auszugehen, dass dies mit einem höheren Ansteckungs- bzw. Verbreitungsrisiko verbunden wäre. Zwar ist die Ansteckungsgefahr im Freien nach dem aktuellen Stand des Wissens wohl geringer als in geschlossenen Räumen.
BGE 148 I 19 S. 30
Dennoch kann gestützt auf die verschiedenen Untersuchungen, wie bereits erwähnt, eine relevante Ansteckungsgefahr im Freien nicht ausgeschlossen werden (vgl. E. 6.2.1 hiervor).Wenn der Regierungsrat die Teilnehmerzahl auf 300 begrenzt hat, so hat er damit das akzeptable Risiko in zulässiger Weise festgelegt. Den Kantonen ist es nicht verwehrt, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten aus sachlich haltbaren Gründen eine andere Risikobeurteilung vorzunehmen und dementsprechend strengere risikoreduzierende Massnahmen anzuordnen als andere Kantone oder der Bund; dies ist keine Verletzung der Rechtsgleichheit, sondern vielmehr Konsequenz des Föderalismus (BGE 136 I 1 E. 4.4.4; BGE 133 I 249 E. 3.4; vgl. auch Art. 46 Abs. 3 und Art. 47 BV ).
6.3.5 Denkbar ist sodann, wie die Beschwerdeführerin in vager Form geltend macht, an Stelle der Begrenzung der Teilnehmerzahl bessere Schutzkonzepte bei Kundgebungen anzuordnen. Zudem ist es namentlich möglich, bei Kundgebungen auf öffentlichem Grund, die in der Regel bewilligungspflichtig sind, im Rahmen des Bewilligungsverfahrens differenzierte Lösungen im Einzelfall vorzusehen und risikolimitierende Auflagen anzuordnen (vgl. dazu eingehender BGE 148 I 33 E. 7.7.2 und 7.7.3).
Die allgemeine Lebenserfahrung zeigt allerdings, dass Kundgebungen mit zahlreichen Teilnehmern häufig dazu neigen, einen wenig geordneten Verlauf zu nehmen, so dass auch die Einhaltung von Schutzkonzepten und Auflagen nicht unbedingt gewährleistet werden kann (vgl. auch KETTIGER, a.a.O., Ziff. 4.4.3). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Teilnehmer an Demonstrationen nicht nur sich selber gefährden, sondern auch Dritte, namentlich Polizei- und weitere Einsatzkräfte, welche für einen reibungslosen Ablauf der Kundgebung zu sorgen haben. Schliesslich führen grosse Kundgebungen nicht nur während der Veranstaltung selber, sondern auch vor- und nachher (An- und Abreise) zu einer erheblichen Ansammlung von Menschen. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Beschränkung der Teilnehmerzahl als erforderlich, um das Risiko der Virusverbreitung zu reduzieren.
6.4.1 Anders als beispielsweise private Veranstaltungen sind Kundgebungen in erster Linie auf Aussenwirkungen bedacht (vgl. auch Bundesamt für Gesundheit, Erläuterungen zur Verordnung vom
BGE 148 I 19 S. 31
19. Juni 2020 über Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der COVID-19-Epidemie [Covid-19-Verordnung besondere Lage; SR 818.101.26], Version vom 27. April 2021, S. 24 [nachfolgend: Erläuterungen Covid-19-Verordnung besondere Lage]). Im Gegensatz zu anderen Formen von Meinungsbildung richten sie sich nicht primär an Personen, die sich ohnehin bereits für ein bestimmtes Thema interessieren; vielmehr sollen auch Dritte sowie die Medien auf die jeweiligen Anliegen aufmerksam gemacht werden (vgl. MALINVERNI, a.a.O., N. 24 zu Art. 22 BV). Insofern erfüllt die Versammlungsfreiheit auch eine Ventil- sowie eine "Warn-, Kontroll- und Innovationsfunktion" (MAYA HERTIG, in: Basler Kommentar, Bundesverfassung, 2015, N. 1 zu Art. 22 BV; BGE 100 Ia 392 E. 4c). Vor diesem Hintergrund erscheint naheliegend, dass die Teilnehmerzahl einen starken Einfluss auf die Wahrnehmung der jeweiligen Kundgebung bzw. der in diesem Rahmen zum Ausdruck gebrachten Anliegen durch die Öffentlichkeit hat. Zwar können auch kleinere Kundgebungen und die damit vertretenen Anliegen durch Medien weit verbreitet werden; jedoch entspricht es der allgemeinen Lebenserfahrung, dass die Appell- und Publizitätswirkung sowie die mediale Resonanz grösserer Kundgebungen wesentlich höher ist (vgl. zum Ganzen auch BGE 148 I 33 E. 7.8).
6.4.2 Indem sie die Teilnehmerzahl an politischen und zivilgesellschaftlichen Kundgebungen auf 300 Personen festlegt, trägt die vorliegend angefochtene Reglementsbestimmung sowohl den epidemiologischen Risiken, die von Menschenansammlungen ausgehen, als auch den öffentlichen und privaten Interessen an der Durchführung von Kundgebungen Rechnung. Insbesondere werden politische Kundgebungen nicht gleich behandelt wie andere Veranstaltungen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Bundesrat politische und zivilgesellschaftliche Kundegebungen wegen der hohen Bedeutung, die ihnen in einer grund- und staatsrechtlichen Perspektive zukommt, gegenüber anderen Veranstaltungen insofern privilegierte, als diese nicht sämtliche an übrige Veranstaltungen gestellten Anforderungen erfüllen mussten. Insbesondere wurde keine Begrenzung hinsichtlich der Anzahl Teilnehmer festgelegt (vgl. Art. 6c Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage, in der im Zeitpunkt des Erlasses des hier angefochtenen Reglements geltenden Fassung und E. 4.5 hiervor; vgl. auch Erläuterungen Covid-19-Verordnung besondere Lage, a.a.O., S. 7 und 24 f.). Zwar dürfen die
BGE 148 I 19 S. 32
Kantone, wie bereits ausgeführt, schärfere Massnahmen anordnen bzw. sind sie nicht gehalten, die bundesrechtlichen Vorgaben zu übernehmen. Indessen gilt es im Rahmen der Verhältnismässigkeit zu berücksichtigen, dass der Bundesrat politischen und zivilgesellschaftlichen Kundgebungen aufgrund des hohen öffentlichen Interesses speziellen Vorschriften unterstellt hat. Die hier angefochtene Regelung trägt dieser vom Bundesrat gewollten Differenzierung Rechnung.
6.4.3 Durch die Begrenzung der Teilnehmenden auf 300 Personen wird die Versammlungsfreiheit in Bezug auf politische und zivilgesellschaftliche Kundgebungen zwar eingeschränkt; indessen wird weder die für solche Veranstaltungen typische Appell- und Publizitätswirkung übermässig beeinträchtigt noch die Ausübung der Versammlungsfreiheit verunmöglicht. Im Übrigen setzt das angefochtene Reglement die maximal zulässige Teilnehmerzahl an Kundgebungen wesentlich höher fest als es die bundesrätliche Verordnung (in der im Zeitpunkt des Erlasses des hier angefochtenen Reglements geltenden Fassung) in Bezug auf Veranstaltungen zur politischen Meinungsbildung oder im Familien- und Freundeskreis tut (vgl. E. 4.5 hiervor). Die Beschwerdeführerin kritisiert zwar generell auch die vom Bundesrat angeordneten Massnahmen als überschiessend. Diese Kritik ändert aber nichts daran, dass diese Massnahmen im hier massgebenden Zeitpunkt in Kraft standen und hier nicht Streitgegenstand sein können.
6.5 Schliesslich hat der Regierungsrat der Verhältnismässigkeit insoweit Rechnung getragen, als er die Geltungsdauer des Reglements befristet hat (vgl. auch Art. 40 Abs. 3 EpG).
6.6 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die hier angefochtene Reglementsbestimmung sowohl das unbestrittene öffentliche Interesse am Gesundheitsschutz als auch die besondere Bedeutung der Versammlungsfreiheit in einem demokratischen Rechtsstaat und die privaten Interessen an Kundgebungen berücksichtigt. Die Begrenzung der Teilnehmerzahl an politischen und zivilgesellschaftlichen Kundgebungen auf 300 Personen liegt im Rahmen des weiten kantonalen Beurteilungsspielraums (vgl. nicht publ. E. 5.5.5) und erweist sich als verhältnismässig. Die angefochtene Bestimmung im kantonalen Covid-19-Reglement verletzt die Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV) nicht.