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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_262/2022  
 
 
Urteil vom 27. Juni 2024  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Koch, als präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Hurni, Kölz, 
Gerichtsschreiberin Mango-Meier. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. iur. Silja Meyer, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
1. Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Nordring 8, Postfach, 3001 Bern, 
2. B.________, 
Beschwerdegegnerinnen. 
 
Gegenstand 
Widerhandlung gegen die Covid-19-Verordnung besondere Lage, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 2. Strafkammer, vom 29. April 2022 (SK 21 350). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ widersetzte sich am 10. Oktober 2020, 08.15 Uhr, im Zug auf der Strecke U.________ den Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (COVID-19), indem sie trotz Aufforderung des Zugpersonals keine Gesichtsmaske trug und keine ärztliche Bescheinigung vorlegte, welche sie von der Gesichtsmaskentragpflicht entbunden hätte. 
 
B.  
 
B.a. Mit Urteil vom 26. Mai 2021 sprach das Regionalgericht Oberland A.________ der Übertretung gegen die Verordnung über Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie (Covid-19-Verordnung besondere Lage; SR 818.101.26; Stand am 1. Oktober 2020), begangen am 10. Oktober 2020 im Zug auf der Strecke U.________, schuldig und verurteilte sie zu einer Übertretungsbusse von Fr. 100.-- sowie zur Bezahlung der Verfahrenskosten von Fr. 1'350.--. Im Zivilpunkt wurde die Beschuldigte dazu verurteilt, der B.________ einen Betrag von Fr. 285.73 zu bezahlen.  
 
B.b. Mit Urteil vom 29. April 2022 wies das Obergericht des Kantons Bern die Berufung von A.________ ab und bestätigte das erstinstanzliche Erkenntnis.  
 
C.  
 
C.a. Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________ dem Bundesgericht, es sei das Berufungsurteil aufzuheben und sie sei von Schuld und Strafe vollumfänglich freizusprechen. Weiter sei die Zivilklage abzuweisen, eventualiter sei sie auf den Zivilweg zu verweisen.  
 
C.b. Die Vorinstanz und die Beschwerdegegnerin 1 haben auf Vernehmlassung verzichtet. Die Beschwerdegegnerin 2 beantragt in ihrer Vernehmlassung die Abweisung der Beschwerde. Die Beschwerdeführerin hält replizierend an ihren Anträgen und Ausführungen fest. Die Vorinstanz und die Beschwerdegegnerinnen haben keine Duplik eingereicht.  
 
C.c. Es wurden die kantonalen Akten eingeholt.  
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid in einer strafrechtlichen Angelegenheit, gegen den die Beschwerde in Strafsachen offensteht (Art. 78 Abs. 1 und Art. 80 BGG). Die Beschwerdeführerin hat vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen sowie ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheides. Sie ist somit zur Beschwerde legitimiert (Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b BGG) und hat die Beschwerdefrist eingehalten (Art. 100 Abs. 1 BGG). Der Beschwerde in Strafsachen unterliegen sodann auch Entscheide über Zivilansprüche, wenn diese zusammen mit der Strafsache zu behandeln sind bzw. die Vorinstanz Straf- und Zivilpunkt beurteilte (BGE 136 IV 29 E. 1.9). Unter Vorbehalt rechtsgenüglicher Begründung (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG) ist die Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 ff. BGG mithin grundsätzlich zulässig. 
 
2.  
 
2.1. Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie habe entgegen der Auffassung der Vorinstanz Art. 3a Abs. 1 der Covid-19-Verordnung besondere Lage nicht verletzt und dürfe daher auch nicht für einen Verstoss gegen Art. 83 Abs. 1 lit. j Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG; SR 818.101; Stand am 25. Juni 2020) bestraft werden. Denn auch in der besonderen Lage nach Art. 6 EpG seien bundesrätliche Notverordnungen zwingend auf maximal sechs Monate zu befristen. Es handle sich hierbei in strafprozessualer Hinsicht um eine Gültigkeitsvorschrift, deren Verletzung per se dazu führe, dass eine Verletzung einer unbefristeten Notverordnungsbestimmung zu keiner strafrechtlichen Verurteilung führen könne.  
 
2.2. Die Rüge ist unbegründet: Die Vorinstanz setzt sich in ihrem Urteil mit den Kritikpunkten gegenüber den gesetzlichen Grundlagen eingehend auseinander. Sie stützt sich hierbei namentlich auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung, die sich mit Fragen im Zusammenhang mit der Covid-19-Verordnung besondere Lage bereits vertieft befasst hat. Die Rechtsprechung hat sich insbesondere mit den Fragen der Ermächtigung des Bundesrats zur Anordnung von Massnahmen gegenüber der Bevölkerung bei Vorliegen einer besonderen Lage, der gesetzlichen Grundlage der Verhaltensnormen und dem Legalitätsprinzip, der Gesichtsmaskentragpflicht, der Strafnormen und Sanktionen, der Rechts- und Verhältnismässigkeit gewisser Covid-Massnahmen sowie der Beurteilung der Covid-19-Krankheit als Pandemie eingehend auseinandergesetzt (siehe u.a. BGE 148 I 33 E. 5, 19 E. 4; 147 I 393 E. 4 und 5, 450 E. 3 478 E. 3; Urteile 6B_324/2022 vom 16. Dezember 2022 E. 2.3.2; 2C_183/2021 vom 23. November 2021 E. 3.3 f. und 2C_228/2021 vom 23. November 2021 E. 3.3; 1B_359/2021 vom 5. Oktober 2021 E. 5; 2C_115/2021 vom 21. Februar 2022 E. 4.1). Gemäss der Rechtsprechung fallen unter den Begriff der "Massnahmen gegenüber der Bevölkerung" im Sinne von Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG ebenso solche Massnahmen, welche der Bundesrat gestützt auf Art. 6 Abs. 2 lit. b EpG in der Covid-19-Verordnung besondere Lage eingeführt hatte (Urteil 6B_1433/2021 vom 3. März 2022 E. 3.3 betreffend Gesichtsmaskentragpflicht bei der Teilnahme an politischen und zivilgesellschaftlichen Kundgebungen gemäss Art. 6c Abs. 2 Covid-Verordnung besondere Lage [Stand am 29. Oktober 2020]; siehe auch Art. 1 Abs. 1 Satz Covid-19-Verordnung besondere Lage, wonach diese Verordnung Massnahmen gegenüber der Bevölkerung anordnet; vgl. BGE 147 I 478 E. 3.6.1). Es besteht kein Anlass, hiervon abzuweichen und die damals in Art. 3a Abs. 1 Covid-19-Verordnung normierte Gesichtsmaskentragpflicht im öffentlichen Verkehr anders zu behandeln. Wie die Vorinstanz in der Erwägung 12.1 des angefochtenen Entscheids zutreffend ausführt, entspricht die Covid-19-Verordnung besondere Lage den gesetzlichen Anforderungen, und die Beschwerdeführerin kann aus der fehlenden zeitlichen Befristung der Verordnung nichts zu ihren Gunsten ableiten. Auf die zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz kann vollumfänglich verwiesen werden, ohne dass ihnen etwas beizufügen und auf die in der Beschwerde erhobene Kritik ein weiteres Mal einzugehen wäre. Das Vorbringen, die Covid-19-Verordnung besondere Lage generell für nicht anwendbar zu erklären, kommt davon abgesehen einer abstrakten Normenkontrolle gleich und ist bzw. wäre damit ohnehin unzulässig (Art. 189 Abs. 4 BV; Urteil 6B_824/2023 vom 29. August 2023 E. 4.1).  
 
3.  
 
3.1. Die Beschwerdeführerin wendet sich schliesslich gegen die Gutheissung der Zivilklage der Beschwerdegegnerin 2.  
 
3.2. Die geschädigte Person kann zivilrechtliche Ansprüche aus der Straftat als Privatklägerschaft adhäsionsweise im Strafverfahren geltend machen (Art. 122 Abs. 1 StPO). Geschädigt ist, wer durch die Straftat in seinen Rechten unmittelbar verletzt worden ist, wer mithin Träger des durch die verletzte Strafnorm geschützten oder zumindest mitgeschützten Rechtsguts ist (Art. 115 Abs. 1 StPO; BGE 143 IV 77 E. 2.1 f. mit Hinweisen; Urteil 6B_532/2020 vom 23. Mai 2022 E. 1.1).  
 
3.3. Gemäss den Feststellungen im angefochtenen Entscheid substanziiert die Beschwerdegegnerin 2 ihren geltend gemachten Schaden mit dem Formular "Berechnung der betrieblichen Mehrkosten der B.________ aufgrund von Abweichungen vom Regelbetrieb". Darin erläutert sie, dass wegen jeder Abweichung vom Regelbetrieb in den Ablauf des Bahnverkehrs eingegriffen werden müsse.  
 
3.4. Die strafrechtliche Verurteilung der Beschwerdeführerin stützt sich auf den im Tatzeitpunkt geltenden Art. 3a Abs. 1 Covid-19-Verordnung besondere Lage. Diese Bestimmung schrieb vor, dass Reisende in Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs wie Zügen, Strassenbahnen, Bussen, Schiffen, Luftfahrzeugen und Seilbahnen eine Gesichtsmaske zu tragen hatten. Sie zielte damit offensichtlich auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit ab. Die Beschwerdegegnerin, welche rein betriebliche Interessen ins Feld führt, ist damit aber nicht Trägerin des strafrechtlich geschützten oder zumindest mitgeschützten Rechtsguts. Sie war folglich nicht befugt, im Strafverfahren gegen die Beschwerdeführerin adhäsionsweise Zivilansprüche geltend zu machen. Der angefochtene Entscheid ist im Zivilpunkt aufzuheben.  
 
4.  
 
4.1. Die Beschwerde erweist sich im Zivilpunkt als begründet, ist aber im Strafpunkt abzuweisen. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und die Dispositiv-Ziffer II des angefochtenen Urteils aufgehoben.  
 
4.2.  
 
4.2.1. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdeführerin, die im Strafpunkt unterlegen ist, teilweise kostenpflichtig. Das gilt ebenso für die ihre Vermögensinteressen durchsetzende Beschwerdegegnerin 2, welche im Zivilpunkt unterlegen ist (Art. 66 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 BGG).  
 
4.2.2. Im Strafpunkt haben die beiden Beschwerdegegnerinnen keinen Anspruch auf eine Entschädigung (Art. 68 Abs. 3 BGG).  
Die Beschwerdegegnerin 2 hat der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene, auf den Zivilpunkt bezogene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und Abs. 2 BGG). 
 
 
4.3.  
 
4.3.1. Nachdem die Vorinstanz für die Beurteilung des Zivilpunkts erst- und oberinstanzlich keine Kosten ausgeschieden hat, erübrigt sich eine Rückweisung zu neuem Kostenentscheid.  
 
4.3.2. Die Vorinstanz wird hingegen angewiesen, über eine Parteientschädigung an die Beschwerdeführerin für das erst- und vorinstanzliche Verfahren neu zu befinden. Sowohl das erstinstanzliche Gericht als auch die Vorinstanz haben die Legitimation der Beschwerdegegnerin 2 als Privatklägerin zur adhäsionsweisen Durchsetzung ihrer Zivilforderung zu Unrecht bejaht. Es fehlt mithin an einer Prozessvoraussetzung, weshalb das Strafverfahren im Zivilpunkt zum Abschluss zu bringen ist. Der anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin sind im Berufungsverfahren zusätzliche Aufwendungen im Hinblick auf die Abwendung der Zivilforderung der Beschwerdegegnerin 2 entstanden. Angesichts dessen, dass sich die Höhe der Parteientschädigung nach kantonalem Recht richtet, und aufgrund des weiten Ermessensspielraums der zuständigen Behörde bei der Festlegung von Parteientschädigungen rechtfertigt es sich, die Sache zur Neubeurteilung des Zivilpunkts bzw. der entsprechenden Entschädigung an die Vorinstanz zurückzuweisen.  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und die Dispositiv-Ziffer II des Urteils des Obergerichts des Kantons Bern vom 29. April 2022 bezüglich der Zivilforderung der Beschwerdegegnerin 2 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführerin werden Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- auferlegt.  
 
2.2. Der Beschwerdegegnerin 2 werden Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- auferlegt.  
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin 2 hat der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 1'000.-- zu bezahlen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 27. Juni 2024 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Koch 
 
Die Gerichtsschreiberin: Mango-Meier