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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_145/2024  
 
 
Urteil vom 26. Juni 2024  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, Beusch, 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Marco Bolzern, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Ausgleichskasse Zug, Baarerstrasse 11, 6300 Zug, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Alters- und Hinterlassenenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 22. Januar 2024 (S 2023 41). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ war gemäss Handelsregister vom 14. November 2018 bis 10. Mai 2019 Gesellschafter und Geschäftsführer der B.________ GmbH, welche der Ausgleichskasse des Kantons Zug als beitragspflichtige Arbeitgeberin angeschlossen war. Am xxx 2019 wurde über die Gesellschaft der Konkurs eröffnet; das Konkursverfahren wurde am yyy 2020 mangels Aktiven eingestellt und die Gesellschaft am 2. März 2021 im Handelsregister gelöscht. Mit Verfügung vom 4. Februar 2021 verpflichtete die Ausgleichskasse A.________ zur Bezahlung von Schadenersatz für entgangene Sozialversicherungsbeiträge in der Höhe von Fr. 275'409.10. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 3. Februar 2023 fest. 
 
B.  
Beschwerdeweise liess A.________ beantragen, die Schadenersatzverfügung und der Einspracheentscheid seien aufzuheben; eventualiter sei das Verfahren zu sistieren bis zum rechtskräftigen Abschluss des Inkassoverfahrens gegen C.________ (als solidarisch mithaftendes Organ betreffend das Jahr 2018). Mit Urteil vom 22. Januar 2024 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zug die Beschwerde (einschliesslich Sistierungsgesuch) ab, soweit es darauf eintrat. 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und das Rechtsbegehren stellen, das kantonale Urteil sei aufzuheben. Eventualiter sei die Angelegenheit zur Sachverhaltsabklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die vorinstanzlichen Akten seien beizuziehen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). 
 
2.  
Der vom Beschwerdeführer gestellte verfahrensrechtliche Antrag auf Beizug der vorinstanzlichen Akten ist gegenstandslos, weil die entsprechenden Unterlagen vorliegen. 
 
3.  
 
3.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie den Beschwerdeführer als ehemaligen Gesellschafter und Geschäftsführer der B.________ GmbH zur Bezahlung von Schadenersatz für entgangene Sozialversicherungsbeiträge in der Höhe von Fr. 275'409.10 für das Jahr 2018 und das erste Quartal 2019 verpflichtete.  
 
3.2. Die Grundlagen der Arbeitgeberhaftung (Art. 52 AHVG; Art. 14 Abs. 1 und Art. 51 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV) und die dazu ergangene Rechtsprechung werden im angefochtenen Urteil zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.  
 
4.  
 
4.1. Die Vorinstanz erwog, ein Geschäftsführer hafte ab seinem Amtsantritt nicht nur für die gehörige Sorgfalt mit Blick auf die Begleichung der laufend fällig werdenden, sondern auch für die bereits fällig gewordenen Beiträge. Die Haftung entfalle lediglich bei einem vorbestehenden Schaden, welcher nicht bereits zu bejahen sei, wenn beim Amtsantritt offene, fällige Beitragsforderungen beständen, sondern erst, wenn die Gesellschaft schon vor Eintritt des neuen Mitgliedes zahlungsunfähig sei. Da aber eine Zahlungsunfähigkeit der B.________ GmbH beim Amtsantritt des Beschwerdeführers weder dargetan noch ersichtlich sei, müsse vom Regelfall ausgegangen werden, wonach der Schaden erst mit der Einstellung des Konkursverfahrens mangels Aktiven entstanden sei. Was die Höhe des von der Ausgleichskasse geltend gemachten Schadens anbelange, habe der Beschwerdeführer nicht im Ansatz Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass die zugrunde gelegten Lohnsummen unrichtig wären. Für die im Jahr 2018 ausgerichteten Löhne habe sich die Kasse auf die Lohndeklaration vom 19. März 2019 mit einer detaillierten Aufstellung sämtlicher Arbeitnehmenden inkl. Versichertennummern, Beschäftigungszeitraum sowie massgebendem Lohn abgestützt, für das Jahr 2019 (mangels Erhältlichkeit anderer Dokumente) auf eine Prognose der Arbeitgeberin zur voraussichtlichen Lohnsumme in derselben Erklärung. Dass die Lohnbescheinigung möglicherweise nicht vom Beschwerdeführer, sondern von einer Hilfsperson unterzeichnet worden sei, lege weder eine Urkundenfälschung nahe (es lasse sich nicht entziffern, dass die betreffende Person als "A.________" unterschrieben hätte) noch stehe es einem Abstellen der Ausgleichskasse auf das entsprechende Dokument entgegen, zumal hier das Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit Anwendung finde. Dies gelte umso mehr, als der Beschwerdeführer behaupte, keinen Einblick in den Geschäftsgang der Gesellschaft gehabt zu haben. Seiner Argumentation betreffend den Nachweis der Beitragsforderung könne nicht gefolgt werden, denn sie liefe darauf hinaus, die Pflichtvergessenheit und (wohl bewusst) intransparente Organisation der B.________ GmbH und ihrer Organe dadurch zu honorieren, dass die Gesellschaft jeglicher Beitragspflicht entgehen könnte. Der Beschwerdeführer, der sich als Marionette seines Geschäftspartners C.________ (vormaliger Geschäftsführer) darstelle, habe keinerlei Anstalten gemacht, seiner Aufsichtspflicht als Geschäftsführer nachzukommen und für die Leistung der geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge zu sorgen, und damit grobfahrlässig und schuldhaft gehandelt. Er vermöge sich auch nicht durch die Behauptung von Urkundenfälschungen seitens C.________ zu exkulpieren. Es erstaune nicht, dass der Beschwerdeführer keine Strafanzeige erstattet habe, sei doch viel naheliegender, dass Hilfspersonen die entsprechende Lohnbescheinigung ausgefüllt und unterzeichnet hätten, wobei nicht ersichtlich sei, inwiefern dies den Tatbestand der Urkundenfälschung erfüllen sollte. Der Beschwerdeführer habe sich in eklatanter Verletzung seiner Pflichten als Geschäftsführer nie um die Meldung der beitragspflichtigen Löhne gekümmert; die Aufgabe sei offenbar ohne sein Zutun und Wissen durch einen unbekannten Dritten erledigt worden. Das schuldhafte Versäumnis des Beschwerdeführers sei ohne Weiteres auch adäquat kausal für den der Ausgleichskasse entstandenen Schaden, weil es dazu geführt habe, dass die zugrunde liegenden Beitragsforderungen vor dem Konkurs der Gesellschaft nicht beglichen worden seien.  
 
4.2. Der Beschwerdeführer wiederholt im Wesentlichen das bereits im kantonalen Verfahren Vorgetragene, vermag damit aber nicht darzutun, dass seine Rügen, wonach die Vorinstanz den Sachverhalt willkürlich festgestellt und die Untersuchungsmaxime verletzt haben soll, begründet wären. So beschränkt er sich nach wie vor darauf zu behaupten, auf der Lohndeklaration für das Jahr 2018 vom 19. März 2019 habe jemand seine Unterschrift gefälscht und beim angegebenen Lohn für 2019 habe es sich um eine reine Prognose gehandelt, zu welchen Vorwürfen bereits im angefochtenen Urteil Stellung genommen wurde. Seinem Einwand, aufgrund des Untersuchungsgrundsatzes wäre es an der Vorinstanz gewesen, dazu weitere Abklärungen zu treffen, so Unterlagen zu edieren, frühere Organe oder Mitarbeiter zu befragen und ein grafologisches Gutachten zur Echtheit der Unterschrift auf der Lohnbescheinigung einzuholen, ist entgegenzuhalten, dass das kantonale Gericht aufgrund der Aktenlage in antizipierter Beweiswürdigung (BGE 134 I 140 E. 5.3; 131 I 153 E. 3) willkürfrei davon ausgehen durfte, weitere Vorkehren würden nichts ändern am feststehenden Beweisergebnis, wonach die detaillierte Angaben enthaltende Lohndeklaration auch bei Unterzeichnung durch eine Hilfsperson eine zuverlässige Grundlage darstellte, so dass sich die Ausgleichskasse darauf abstützen durfte. Der Beschwerdeführer scheint nicht einsehen zu wollen, dass die Aufsicht über die Einhaltung der Bestimmungen über den Abzug, die Ablieferung und die Abrechnung der Sozialversicherungsbeiträge zu seinen Pflichten als Geschäftsführer (vgl. dazu Art. 810 Abs. 2 OR) gehörte und er sich seiner Verantwortung nicht dadurch entledigen konnte, dass er sich selber um nichts kümmerte und Dritte gewähren liess (vgl. Urteil 9C_95/2023 vom 9. November 2023 E. 4.1.2).  
 
4.3. Anders als der Beschwerdeführer anzunehmen scheint, hatte die Vorinstanz mangels entsprechender Behauptungen seinerseits oder sich aus den Unterlagen ergebender Anhaltspunkte auch keinen Anlass zu prüfen, ob die B.________ GmbH im Zeitpunkt, als er Geschäftsführer geworden war (d.h. am 14. November 2018), überschuldet war (vgl. zur diesfalls geltenden Rechtslage: BGE 119 V 401 E. 4c; Urteile 9C_581/2023 vom 8. Mai 2024 E. 4.2.6; 9C_321/2022 vom 29. März 2023 E. 5.2.2; 9C_538/2019 vom 19. Juni 2020 E. 3 und 4.2). Unbehelflich ist sein Vorbringen, wonach er eine Überschuldung im vorinstanzlichen Verfahren nicht selber habe behaupten (und belegen) müssen, weil er angesichts des fehlenden Zugangs zu den Geschäftsbüchern darüber nur Spekulationen hätte anstellen können, und es vielmehr die Aufgabe der Vorinstanz gewesen wäre, Unterlagen wie Jahresrechnungen, dazugehörige Belege etc. der B.________ GmbH bei C.________ zu edieren und diese allenfalls, bei Unklarheiten, einem Gutachter zur Einschätzung der finanziellen Situation vorzulegen. Seinem Einwand ist entgegenzuhalten, dass der Untersuchungsgrundsatz (Art. 61 lit. c ATSG) beschränkt wird durch die den Parteien obliegenden Mitwirkungspflichten (BGE 125 V 193 E. 2), zu welchen in erster Linie die Begründungs- und Rügepflicht gehört, die beinhaltet, dass die wesentlichen Tatsachenbehauptungen und -bestreitungen in den Rechtsschriften enthalten sein müssen (BGE 146 V 240 E. 8.3.2; 138 V 86 E. 5.2.3). Diese Anforderung war offensichtlich nicht erfüllt, hatte der Beschwerdeführer doch im kantonalen Verfahren weder in der Beschwerde noch in der Replik vorgebracht, die B.________ GmbH sei bei seinem Amtsantritt überschuldet gewesen. Abgesehen davon sind an den Untersuchungsgrundsatz geringere Anforderungen zu stellen, wenn die Parteien, wie hier, anwaltlich vertreten sind (BGE 146 V 240 E. 8.3.2; 138 V 86 E. 5.2.3). Im Übrigen wäre es auch in diesem Zusammenhang stossend, den Beschwerdeführer Vorteile daraus ziehen zu lassen, dass er passiv blieb und keinerlei Anstalten traf, seinen gesetzlichen Pflichten als Geschäftsführer der B.________ GmbH (insbesondere seinen Überwachungs- und Kontrollpflichten) nachzukommen bzw. auf den mit dieser Stellung einhergehenden Befugnissen zu beharren (vgl. dazu auch Art. 810 Abs. 2 OR).  
 
4.4. Bei dieser Sachlage ist die Beschwerde abzuweisen.  
 
5.  
Entsprechend dem Prozessausgang hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 8'000.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 26. Juni 2024 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann