Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_506/2023  
 
 
Urteil vom 20. Juni 2024  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Métral, 
Gerichtsschreiberin Huber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Sozialversicherungsanstalt 
des Kantons St. Gallen, EL-Durchführungsstelle, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch B.________, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Ergänzungsleistung zur AHV/IV, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 22. Juni 2023 (EL 2023/7). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die 1964 geborene A.________ bezog mit Wirkung ab 1. März 2015 eine unbefristete Viertelsrente der Invalidenversicherung (Invaliditätsgrad: 48 %; Verfügung der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 19. Mai 2017). Im Februar 2019 und November 2020 meldete sie sich zum Bezug von Ergänzungsleistungen (EL) an. Mit Verfügungen vom 11. April 2019 und 28. Dezember 2020 verneinte die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, EL-Durchführungsstelle, jeweils einen Leistungsanspruch. Gegen letztere Verfügung erhob A.________ Einsprache, die die EL-Durchführungsstelle mit Entscheid vom 28. Mai 2021 abwies.  
 
A.b. Im Oktober 2021 meldete sich A.________ erneut zum Bezug von Ergänzungsleistungen an. Mit Verfügung vom 24. Mai 2022 sprach ihr die EL-Durchführungsstelle mit Wirkung ab 1. Oktober 2021 Ergänzungsleistungen zu. Dagegen erhob A.________ Einsprache, die die Verwaltung mit Entscheid vom 19. Dezember 2022 abwies. Zwischenzeitlich hatte diese die laufenden Ergänzungsleistungen rückwirkend ab 1. September 2022 aufgrund des gestiegenen monatlichen Mietzinses erhöht (Verfügung vom 15. September 2022).  
 
B.  
A.________ erhob gegen den Einspracheentscheid vom 19. Dezember 2022 Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen. Dieses hob den Einspracheentscheid auf und sprach ihr eine monatliche Ergänzungsleistung von Fr. 1'489.90 ab Oktober 2021, von Fr. 1'513.20 für den Monat Januar 2022 und von Fr. 1'713.20 ab Februar 2022 zu (Entscheid vom 22. Juni 2023). 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die EL-Durchführungsstelle, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und dahingehend anzupassen, dass A.________ vom 1. Oktober 2021 bis 31. Dezember 2021 eine monatliche Ergänzungsleistung von Fr. 1'193.90, vom 1. bis 31. Januar 2022 eine solche von Fr. 1'217.20 und ab dem 1. Februar 2022 eine solche von Fr. 1'417.20, jeweils inklusive Prämienvergütung der Krankenversicherung, zuzusprechen sei.  
 
A.________ schliesst sinngemäss auf Abweisung der Beschwerde. Die Vorinstanz bekräftigt ihren Entscheid. Das Bundesamt für Sozialversicherungen lässt sich nicht vernehmen. 
Mit Verfügung vom 10. Oktober 2023 erteilt der Präsident der Beschwerde die aufschiebende Wirkung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 145 V 57 E. 4.2). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Es ist unbestritten, dass bei der Beschwerdegegnerin im Rahmen der EL-Anspruchsberechnung ein hypothetisches Erwerbseinkommen zu berücksichtigen ist. Zu prüfen i st dabei einzig, ob das kantonale Gericht den entsprechenden Betrag in Abänderung des Einspracheentscheids (Fr. 26'147.-) zu Recht auf Fr. 20'816.- herabgesetzt hat.  
 
2.2. Nach den allgemein intertemporalrechtlichen Grundsätzen (vgl. das zur Publikation vorgesehene Urteil 8C_435/2023 vom 27. Mai 2024 E. 4.2 mit Hinweisen) sind hier die Bestimmungen des ELG wie auch der ELV in der bis Ende 2022 geltenden Fassung anwendbar. Sie werden im Folgenden jeweils in dieser Version wiedergegeben, zitiert und angewendet.  
 
 
2.3.  
 
2.3.1. Nach Art. 14a ELV wird Invaliden als Erwerbseinkommen grundsätzlich der Betrag angerechnet, den sie im massgebenden Zeitabschnitt tatsächlich verdient haben (Abs. 1). Invaliden unter 60 Jahren ist als Erwerbseinkommen jedoch mindestens anzurechnen (Abs. 2) :  
 
a. der um einen Drittel erhöhte Höchstbetrag für den Lebensbedarf von Alleinstehenden nach Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer 1 ELG bei einem Invaliditätsgrad von 40 bis unter 50 Prozent;  
 
b. der Höchstbetrag für den Lebensbedarf nach Buchstabe a bei einem Invaliditätsgrad von 50 bis unter 60 Prozent;  
 
c. zwei Drittel des Höchstbetrages für den Lebensbedarf nach Buchstabe a bei einem Invaliditätsgrad von 60 bis unter 70 Prozent. 
 
2.3.2. Bei der Festsetzung des anrechenbaren Einkommens von teilinvaliden Personen gemäss Art. 14a Abs. 2 ELV haben sich die EL-Organe und Sozialversicherungsgerichte mit Bezug auf die invaliditätsbedingte Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit grundsätzlich an die Invaliditätsbemessung durch die Invalidenversicherung zu halten. Diese Bindung ist deshalb angezeigt, weil die EL-Durchführungsorgane zum einen nicht über die fachlichen Voraussetzungen für eine selbstständige Beurteilung der Invalidität verfügen und es zum anderen zu vermeiden gilt, dass der gleiche Sachverhalt unter denselben Gesichtspunkten von verschiedenen Instanzen unterschiedlich beurteilt wird (BGE 140 V 267 E. 2.3 und E. 5.1; 117 V 153 E. 2c, 202 E. 2b; Urteile 9C_827/2018 vom 20. März 2019 E. 6.1; 8C_172/2007 vom 6. Februar 2008 E. 7.1). Davon ausgenommen ist eine vor Erlass der Verfügung oder des Einspracheentscheids eingetretene gesundheitliche Veränderung, welche - unter Umständen - berücksichtigt werden darf, auch wenn sie der Verwaltung zum Zeitpunkt der Verfügung oder des Einspracheentscheids noch nicht bekannt oder noch nicht überwiegend wahrscheinlich war und damit nicht Gegenstand dieser Entscheide bildete (Urteil 8C_172/2007 vom 6. Februar 2008 E. 7.1 mit Hinweis).  
 
 
3.  
 
3.1. Das kantonale Gericht hat eine relevante Sachverhaltsänderung seit der Zusprache der Invalidenrente (Verfügung der IV-Stelle vom 19. Mai 2017) verneint. Folglich ist es von einer Arbeitsfähigkeit in leidensangepassten Tätigkeiten von 50 % ausgegangen.  
Die Vorinstanz hat erwogen, der Wortlaut von Art. 14a Abs. 2 ELV lasse es nicht zu, den in der Begründung der Rentenverfügung der IV-Stelle angegebenen Invaliditätsgrad (48 %) als für die EL-Anspruchsberechnung verbindlich zu betrachten. Damit würde der Sinn und Zweck von Art. 14a Abs. 2 ELV, eine zwischen den sich widersprechenden Grundsätzen der Verfahrensökonomie und der Einzelfallgerechtigkeit ausgleichende Lösung vorzugeben, für solche Fälle zugunsten der Verfahrensökonomie vollkommen missachtet. Folglich habe das Bundesgericht angeordnet, dass sich die Durchführungsorgane der EL und die kantonalen Gerichte nur grundsätzlich an die Invaliditätsbemessung zu halten hätten. Das bedeute, dass bei einer eindeutig falschen Invaliditätsbemessung in einer Verfügung der IV-Stelle keine Bindungswirkung bestehe. In einem solchen Fall sei der richtige Invaliditätsgrad eigenständig zu berechnen, so das kantonale Gericht weiter. Die selbst für ideal leidensadaptierte Tätigkeiten nur noch zu 50 % arbeitsfähige Beschwerdegegnerin könne nicht weniger als 50 % invalid sein, weshalb der von der IV-Stelle festgelegte Invaliditätsgrad von 48 % zweifellos unrichtig sei. Die Vorinstanz hat einen eigenen Invaliditätsgrad von 55 % ermittelt und gestützt darauf das hypothetische Erwerbseinkommen berechnet. 
 
3.2. Die Beschwerdeführerin bringt dagegen vor, es sei nicht Sache der EL-Organe und auch nicht des kantonalen Versicherungsgerichts, den von der IV-Stelle ermittelten Invaliditätsgrad zu überprüfen. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gehe es nicht an, dass eine rechtskräftige Entscheidung der IV-Stelle bei der EL-Anspruchsberechnung abgeändert werde. Indem die Vorinstanz nicht von einem Invaliditätsgrad von 48 % und somit von einem hypothetischen Erwerbseinkommen von Fr. 26'147.- ausgegangen sei, sondern einen eigenen Invaliditätsgrad bemessen (55 %) und gestützt darauf ein hypothetisches Erwerbseinkommen von Fr. 20'816.- festgelegt habe, habe sie Bundesrecht verletzt.  
 
4.  
 
4.1. Die Darlegungen des kantonalen Gerichts, weshalb hier von dem in der Rentenverfügung ermittelten Invaliditätsgrad abgewichen werden soll, überzeugen mit Blick auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung (vgl. E. 2.3.2 hiervor) nicht, wie die Beschwerdeführerin zu Recht moniert. Es kann auf die in den zitierten Bundesgerichtsurteilen genannten Überlegungen, die für die Bindungswirkung sprechen und die hier ebenfalls gelten, verwiesen werden. In den zitierten Urteilen findet sich die Formulierung, dass sich die EL-Durchführungsstelle "grundsätzlich" an die Invaliditätsbemessung durch die Invalidenversicherung zu halten habe. Damit wird eine entsprechende Abweichung vom ermittelten Invaliditätsgrad der IV-Stelle zugelassen, wenn vor Erlass der Verfügung oder des Einspracheentscheids eine gesundheitliche Veränderung eingetreten ist. Eine solche liegt hier unbestrittenermassen nicht vor. Schliesslich hat die Vorinstanz die Einzelfallgerechtigkeit in den Fokus gerückt, die gegen die Übernahme des ihrer Ansicht nach falschen Invaliditätsgrades sprechen solle. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden, da sich die Beschwerdegegnerin über den Rechtsmittelweg im invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren hätte wehren können, wäre sie mit der Verfügung der IV-Stelle nicht einverstanden gewesen.  
Letztlich bleibt anzufügen, dass selbst wenn bei einer zweifellos unrichtigen Rentenverfügung der IV-Stelle in Bezug auf den Invaliditätsgrad für die EL-Behörden keine Bindungswirkung bestände, der Vorinstanz wohl dennoch nicht gefolgt werden könnte. Einzig mit der Begründung, die Beschwerdegegnerin sei angepasst noch 50 % arbeitsfähig, weshalb ein Invaliditätsgrad von mindestens 50 % bestehen müsse, liesse sich eine solche kaum rechtfertigen. 
 
4.2. Vor dem Hintergrund des Gesagten hat das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt, indem es auf der Basis eines Invaliditätsgrades von 55 % von einem hypothetischen Erwerbseinkommen von Fr. 20'816.- ausgegangen ist. Es bleibt mithin beim im Einspracheentscheid nach Art. 14a Abs. 2 lit. a ELV ermittelten Betrag von Fr. 26'147.- bei einem Invaliditätsgrad von 48 %, womit sich eine Auseinandersetzung mit den weiteren vorinstanzlichen Erwägungen erübrigt.  
 
Bei diesem Ergebnis und weil in diesem Zusammenhang auch keine entsprechende Rüge erhoben wird (vgl. auch Urteil 8C_45/2023 vom 7. Juli 2023 E. 3.5), kann schliesslich die Frage dahin stehen, ob sich die vorinstanzlich bejahte Einzelrichterzuständigkeit im vorliegenden Fall noch halten lässt. 
 
4.3. Alle übrigen Parameter, die die Vorinstanz der EL-Anspruchsberechnung zugrunde gelegt hat, sind unbestritten geblieben, weshalb sie für das Bundesgericht verbindlich sind (vgl. E. 1 hiervor). Mithin ist einzig das hypothetische Erwerbseinkommen im Sinne der Beschwerdeführerin anzupassen. Dabei resultiert ab 1. Oktober 2021 bis 31. Dezember 2021 eine monatliche Ergänzungsleistung von Fr. 1'193.90, vom 1. bis 31. Januar 2022 eine solche von Fr. 1'217.20 und ab dem 1. Februar 2022 eine solche von Fr. 1'417.20. Die Beschwerde ist begründet.  
 
5.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 22. Juni 2023 wird insoweit abgeändert, als der Beschwerdegegnerin ab 1. Oktober 2021 bis 31. Dezember 2021 eine monatliche Ergänzungsleistung von Fr. 1'193.90, vom 1. bis 31. Januar 2022 eine solche von Fr. 1'217.20 und ab dem 1. Februar 2022 eine solche von Fr. 1'417.20 zuzusprechen ist. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 20. Juni 2024 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber